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Die Fleischseite des Klimawandels

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Fleischtheke mit rotem Fleisch

JBS, Cargill und Tyson Foods – allein diese drei der weltgrößten Fleischunternehmen – haben im vergangenen Jahr den Ausstoß von mehr Treibhausgasen verursacht als Frankreich und annähernd so viele wie die größten Ölkonzerne der Welt. Doch während die Energieriesen wie Exxon und Shell wegen ihres Beitrags zum Klimawandel kritisiert werden und unter Beschuss gekommen sind, schaut kaum jemand auf die Fleisch- und Milchgiganten.

Diese Doppelmoral muss sich ändern, wenn wir eine ökologische Katastrophe abwenden wollen.

Um die Aufmerksamkeit auf dieses Thema zu lenken, haben sich das Institute for Agriculture and Trade Policy, GRAIN und die Heinrich-Böll-Stiftung zusammengetan, um den  „überdimensionierten klimatischen Fußabdruck“ des globalen Nutztierhandels zu untersuchen. Unsere Feststellungen waren schockierend.

Im Jahr 2016 emittierten die 20 größten Fleisch- und Milchkonzerne mehr Treibhausgase als Deutschland. Wären diese Unternehmen ein Land, wären sie der siebtgrößte Emittent weltweit. Damit ist klar, dass die Bekämpfung des Klimawandels auch die Eindämmung der Emissionen der Fleisch- und Milchindustrie erfordert. Die Frage ist, wie.

Großer politischer Einfluss der transnationalen Fleich- und Milchkonzerne

Die transnationalen Fleisch- und Milchkonzerne haben fast überall auf der Welt großen politischen Einfluss. Die jüngste korruptionsbedingte Verhaftung zweier JBS-Führungskräfte, der Brüder Joesley und Wesley Batista, hat die Korruption in der Branche verdeutlicht. JBS ist das größte Fleisch verarbeitende Unternehmen der Welt und verdiente 2016 fast 20 Milliarden Dollar mehr als sein engster Rivale, Tyson Foods.

JBS erreichte seine Position mit Unterstützung der Brasilianischen Entwicklungsbank und anscheinend durch die Bestechung von mehr als 1800 Politikern. Es ist daher kein Wunder, dass Treibhausgasemissionen weit unten auf der Prioritätenliste des Unternehmens stehen. Im Jahr 2016 setzten JBS, Tyson und Cargill 484 Millionen Tonnen klimaverändernder Gase frei, 46 Millionen Tonnen mehr als der britische Energieriese BP.

Brancheninsider aus der Fleisch- und Milchindustrie drängen hart auf eine produktionsfreundliche Politik, häufig auf Kosten der Umwelt und der öffentlichen Gesundheit. Von Versuchen, Gesetze zur Senkung der Stickoxid- und Methanemissionen zu blockieren, bis hin zur Umgehung von Verpflichtungen zur Verringerung der Luft-, Wasser- und Bodenbelastung: Beide Branchen haben es geschafft, ihre Gewinne zu steigern und während sie die Verschmutzungskosten der Öffentlichkeit aufzubürden.

Auf die Nutztierproduktion entfallen mehr Treibhausgasemissionen als auf den Verkehrssektor

Eine der vielen Folgen ist, dass inzwischen fast 15 % der weltweiten Treibhausgasemissionen auf die Nutztierproduktion entfallen – mehr als auf den kompletten weltweiten Verkehrssektor. Zudem dürfte die Zunahme der Fleisch- und Milchproduktion in den kommenden Jahrzehnten weitgehend auf dem industriellen Modell beruhen.

Falls dieses Wachstum mit dem von der Welternährungsorganisation prognostizierten Tempo abläuft, wird dies unsere Fähigkeit, einen Temperaturanstieg auf apokalyptisches Niveau zu verhindern, untergraben.

Auf der UN-Klimakonferenz (COP23) in Bonn im vergangenen Monat wurden erstmals mehrere UN-Agenturen angewiesen, im Bereich Landwirtschaft, einschließlich der Nutztierhaltung, zusammenzuarbeiten. Dieser Schritt ist aus vielen Gründen begrüßenswert, insbesondere jedoch, weil er dazu beitragen wird, die zahlreichen dem globalen Agrarhandel innewohnenden Interessenkonflikte aufzudecken.

Um sich ihrer Verantwortung für das Klima zu entziehen, argumentieren die Fleisch- und Milchbranchen seit langem, dass eine Ausweitung der Produktion zur Sicherung der Lebensmittelversorgung notwendig ist. Großunternehmen, so insistieren sie, können Fleisch oder Milch effizienter produzieren als Hirten am Horn von Afrika oder Kleinproduzenten in Indien.

Aktuelle politische Vorgaben schaffen Anreize, die Leistung der Tiere noch mehr zu steigern

Unglücklicherweise widerspricht die aktuelle Klimapolitik dieser Darstellung nicht, und teilweise ermutigt sie sogar zu Produktionssteigerung und -intensivierung. Statt Ziele für die Verringerung der Gesamtemissionen der Branche aufzustellen, schaffen viele aktuelle politische Vorgaben Anreize für die Unternehmen, die Leistung der Tiere noch mehr zu steigern.

Dies erfordert zwangsläufig eine Gleichsetzung von Tieren mit Maschinen, die sich optimieren lassen, um durch technologische Verbesserungen mit geringeren Mitteln mehr zu produzieren, und ignoriert alle sonstigen negativen Auswirkungen dieses Modells.

Die Praxis in Kalifornien ist aufschlussreich. Die Regierung des Staates verfolgt als eine der ersten Maßnahmen, um die landwirtschaftliche Freisetzung von Methan zu regulieren, und hat ehrgeizige Ziele aufgestellt, um die Emissionen der Rinderwirtschaft zu verringern. Doch versucht Kalifornien gegenwärtig, das Problem zu lösen, indem es Programme finanziert, die statt kleiner, nachhaltig operierender Betreiber gigantische Milchviehbetriebe unterstützen.

Derartige „Lösungen“ haben die ohnehin schon schlechte Bilanz der Branche in Bezug auf das Wohl der Arbeitnehmer und der Tiere nur weiter verschlechtert und ihre negativen Auswirkungen auf Gesundheit und Umwelt verschärft.

Teil einer möglichen Lösung: Beschaffungsrichtlinien zum Aufbau von lokalen Märkten

Dabei existieren Lösungen. Zunächst einmal sollten die Regierungen öffentliche Gelder von der industriellen Landwirtschaft und dem großmaßstäblichen Agribusiness auf kleinere, ökologisch ausgerichtete Familienbetriebe umlenken. Die Regierungen könnten zudem durch entsprechende Beschaffungsrichtlinien zum Aufbau von lokalen Märkten für die Produkte beitragen und damit regionale Wirtschaftskreisläufe fördern.

Viele Städte weltweit gründen ihre Energieentscheidungen inzwischen auf den Wunsch, den Klimawandel zu bekämpfen. Ähnliche Kriterien sollten auch die Lebensmittelpolitik der Kommunen bestimmen. So würden etwa höhere Investitionen in Programme zur Belieferung von Krankenhäusern und Schulen frisch vom Hof eine gesündere Ernährung der Patienten bzw. Schulkinder gewährleisten, die lokale Wirtschaft stärken und die Auswirkungen der Fleisch- und der Milchbranche auf das Klima verringern.

Die Fleisch- und Milchkonzerne schädigen schon viel zu lange ungestraft das Klima. Wenn wir den weltweiten Temperaturanstieg aufhalten und eine Umweltkatastrophe verhindern wollen, müssen Verbraucher und Regierungen mehr tun, um umweltbewusste Bäuerinnen und Bauern zu unterstützen und zu stärken. Dies wäre gut für unsere Gesundheit, und für die Gesundheit unseres Planeten.

Dieser Artikel erschien zuerst bei Project Syndicate und ist in elf Sprachen verfügbar. Copyright: Project Syndicate, 2017.


Laborfleisch: Biologen zeigen ihre Muskeln

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Fleischatlas 2018: Burger aus der Petrischale

Im Juli 2016 schaltete ein israelisches Start-up namens SuperMeat eine Crowdfunding-Kampagne im Internet. Es warb für die Finanzierung eines Gerätes, für das noch nicht einmal ein Design oder ein Bauplan vorlagen – einen Bioreaktor für den Hausgebrauch, der Hühnerfleisch produziert. Die Maschine, so warb ein Video, lasse sich in Supermärkten, Restaurants oder sogar in Privathaushalten aufstellen. Nach nicht einmal zwei Monaten war die Zielmarke von 100.000 Dollar erreicht. Inzwischen hat SuperMeat den Betrag auf eine halbe Million Dollar erhöht. Noch bevor der Schritt von der Vision zum Plan gemacht war, fanden sich genügend Leute, die das Verfahren finanzieren.

Das zeigt, wie faszinierend die Idee für viele sein muss, Fleisch zu produzieren, ohne dass dafür ein Tier leiden und sterben muss. „Cultured meat“, „clean meat“ oder zu deutsch „In-vitro-Fleisch“ sind die Schlagworte, mit denen junge Biotechnologie-Firmen aus den USA, den Niederlanden und eben aus Israel derzeit um Investorinnen und Investoren werben. Science-Fiction ist das nicht mehr. Laut den Unternehmen ist es nur noch ein kleiner Schritt, bis Hühnchen-Nuggets, Fischstäbchen oder Burger-Pattys aus der Petrischale in den Supermärkten liegen.

Nach Herzklappen und Hautgewebe kommt jetzt das Steak

Die eigentliche Technologie dahinter ist erprobt. Schon seit Jahren werden Herzklappen, Hautgewebe oder Ohrmuscheln im Labor gezüchtet. Also sollte das auch bei Steaks und Schnitzel klappen, sagten sich die Forscherinnen und Forscher. Die Erzeugung basiert auf Techniken der Zellvervielfältigung und Gewebezüchtung. Sie verläuft wie das sogenannte „Tissue Engineering“, ganz ähnlich der In-vitro-Produktion von embryonalen Stammzellen. Diese Zellen können sich unendlich oft teilen, wodurch immer neue, identische Zellen entstehen – theoretisch ein grenzenloses Wachstum. Durch eine Biopsie werden einem lebenden Tier Muskelstammzellen entnommen. Diese Zellen werden in einem Nährmedium kultiviert und vermehren sich. Billionen von Stammzellen bilden anschließend Muskelzellen, die zu Muskel- und Fleischfasern zusammenwachsen. Das ist eine Sache von Wochen. Um einen Hamburger zu formen, braucht man etwa 20.000 solcher Fasern.

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Die In-vitro-Metzger haben den moralischen Vorteil im Auge, aber sie argumentieren auch ökologisch. Fleisch aus Fabriken, die eher Raffinerien oder Chemieanlagen entsprechen, machen mit der Massentierhaltung Schluss. Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen erwartet, dass sich bis 2050 die weltweite Fleischproduktion auf 465 Millionen Tonnen jährlich nahezu verdoppelt. Bis dahin wird es wohl noch immer viele Fleischesser geben. Daher die Argumente: Kunstfleisch aus dem Bioreaktor sei nachhaltiger herzustellen. Der Energieverbrauch lasse sich um bis zu 45 Prozent gegenüber der konventionellen Fleischherstellung zurückdrehen. Die Emissionen von Treibhausgasen, der Flächen- und der Wasserverbrauch sänken sogar um über 95 Prozent. Aber solche Angaben haben schon revidiert werden müssen, und der Energieverbrauch der Bioreaktoren könnte deutlich höher sein als der der industriellen Geflügel- und Schweinehaltung. 

1997 erhielt der niederländische Forscher Willem van Eelen das erste Patent zur Herstellung von In-vitro-Fleisch. 1998 folgten Patente in den USA. Einige wenige Biotech-Firmen könnten nun den Markt unter sich aufteilen. 2013 ging der niederländische Biologe Mark Post mit dem ersten künstlichen Burger an die Öffentlichkeit und lud zur Verkostung. Die Kritik war wohlwollend, der Preis des Gerichts exorbitant. Die ganze Entwicklung eingerechnet, kostete der erste In-vitro-Burger rund 330.000 US-Dollar. Als Finanzier stand der Google-Gründer Sergey Brin hinter dem Projekt. 

Wie können wir Fleisch wachsen lassen?

Eine der größten Herausforderungen für die Biotechnologen ist derweil das Nährmedium, in dem das Fleisch wächst. Bislang ist es Kälberserum, das aus den Föten geschlachteter schwangerer Kühe gewonnen wird und voller Wachstumshormone steckt. Aus tierethischer Sicht ist dies problematisch, weil wahrscheinlich auch die Föten zu diesem Zeitpunkt bereits Leid empfinden. In Deutschland ist seit Mai 2017 die Schlachtung von tragenden Tieren im letzten Drittel der Schwangerschaft untersagt. 

SuperMeat gibt an, bereits auf rein pflanzlichen Nährböden Zellen vermehrt zu haben. Noch immer erfordert die Herstellung auch die Zugabe von Antibiotika, denn Bakterien machen auch vor künstlichem Fleisch nicht halt. Die Forscher beschäftigen sich derzeit mit der komplexen Struktur ihres Objekts, um dem Original noch näher zu kommen. Fleisch besteht nicht nur aus Muskelfasern, sie werden von Colagenen gehalten und von Fettgewebe umhüllt, das auch für den Geschmack verantwortlich ist. 

Einige Unternehmen haben Verfahren entwickelt, um Fleisch aus Zellen pflanzlicher Herkunft zu gewinnen. Mitte 2017 geriet die US-Firma Impossible Foods mit ihrem fleischfreien Burger in die Kritik. Ihr Geschmacksträger stammte aus einer genetisch veränderten Hefe, die keine Zulassung erhalten hatte. Umweltorganisationen kritisieren, dass die gentechnischen Verfahren für die In-vitro-Fleischproduktion nicht transparent sind. Dennoch – oder gerade deshalb – haben die Technologinnen und Technologen in den vergangenen vier Jahren deutliche wirtschaftliche Fortschritte gemacht. Die Kosten von Mark Posts Burger, heißt es, lägen inzwischen bei nur noch elf US-Dollar.   

Downloads zum Fleischatlas 2018

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Grafik: Fleischatlas 2018/CC-BY 4.0

Wir freuen uns außerdem über einen Link auf die Webseite der Originalquelle: boell.de/fleischatlas2018

Grafiken zum Download:

Download des Kohleatlas:

Fleischatlas 2018: Die Bilder und Infografiken

Klima - Viel weniger Emissionen nur mit viel weniger Tieren

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Infografik Fleischatlas 2018

Das Klimaabkommen von Paris will den Ausstoß von Treibhausgasen so senken, dass sich die Atmosphäre um höchstens zwei Grad erwärmt. Ab Mitte des Jahrtausends darf es praktisch keine neuen Emissionen mehr geben. Damit dieses Ziel erreicht wird, muss sich auch die Landwirtschaft grundlegend verändern.

In ihrem Klimaschutzplan 2050 stellt die Bundesregierung fest, dass die Landwirtschaft acht Prozent der gesamten deutschen Treibhausgasemissionen verursacht. Davon ist mehr als die Hälfte direkt auf Tierhaltung zurückzuführen. Nicht mitgerechnet sind die Emissionen, die durch den Anbau importierter Futtermittel in anderen Ländern und aus dem Abbau von Humus vor allem in landwirtschaftlich genutzten Moorböden entstehen.

Der Klimaschutzplan der Bundesregierung benennt zwar die Tierhaltung und den daraus resultierenden Einsatz von Stickstoff als Problem, sieht aber als Lösungen kaum mehr als ein verbessertes Nährstoffmanagement und allgemein eine höhere Effizienz der Produktion. Klimapolitik wird lediglich als eine Art Zusatzaufgabe verstanden. Die Agrarpolitik bleibt im Kern unverändert. So gibt es im Klimaschutzplan keine Aussage darüber, dass die Tierbestände kleiner werden müssen – obwohl anerkannt wird, dass die deutschen Emissionen seit 1990 vor allem deshalb um 18 Prozent gesunken sind, weil die Tierhaltung in den neuen Bundesländern stark zurückgegangen ist.

In den vergangenen Jahren jedoch sind bundesweit die Fleisch- und Milcherzeugung wieder deutlich angestiegen, weil viele Fleischunternehmen und Molkereien auf wachsende Exporte setzen. Die Bundesregierung fördert diesen Trend. Höhere Exportmengen durch eine schnell wachsende Tierproduktion und gleichzeitig eine Verringerung der Emissionen: Dieser Zielkonflikt ist nicht durch höhere Produktivität aufzulösen. Wäre die Klimapolitik hingegen integraler Bestandteil der Agrarpolitik, könnte sich die Landwirtschaft grundlegend anders ausrichten.

Die Agrarlobby beteuert, zur Senkung der globalen Emissionen kaum beitragen zu können

Ein großes Potenzial haben Gelder, um Landwirtinnen und Landwirte zu motivieren, ihre Erzeugung auf eine extensive Bewirtschaftung der Moorböden umzustellen. Sie sollten umfassend geschützt, nur gelegentlich mit Schafen beweidet und für den Anbau von Pflanzen genutzt werden, die – wie Schilf – optimal an feuchte Bedingungen angepasst sind. So können die in Moorböden gespeicherten großen Mengen Kohlenstoff erhalten bleiben. Und weil Moorböden nur etwa fünf bis acht Prozent der landwirtschaftlichen Flächen in Deutschland ausmachen, würde sich das Ausmaß der Produktion insgesamt kaum ändern.

Generell kann die Politik wichtige Weichen stellen, indem sie die Vergabe öffentlicher Gelder, besonders die Milliardenzahlungen aus der Agrarpolitik, an Klima- und Umweltschutz koppelt. Wenn Mittel so vergeben werden, dass lokale und betriebliche Nährstoffkreisläufe geschlossen werden und die Zahl der Nutztiere reduziert wird, würden sich die Emissionen deutlich verringern. Weniger Tiere verursachen weniger Emissionen, aber auch klimaschädliche Importe von Futtermitteln können verringert werden.

Eine solche Reduktion würde es leichter machen, Tiere klimafreundlicher und artgerechter zu ernähren und zu halten. Eine spezielle Förderung der Weidehaltung wirkt sich positiv auf die Emissionen aus, weil bei einem guten Herden- und Düngemanagement Kohlendioxid aus der Atmosphäre dauerhaft in den Wurzeln unter der Grasnarbe gebunden wird. Boden ist nach den Ozeanen der größte Kohlenstoffspeicher der Welt.

Ein Fünftel weniger Fleisch würde so viel weniger Klimagase bedeuten wie die Stilllegung des Braunkohlekraftwerks Weisweiler

Eine Förderung von stickstoffbindenden Pflanzen wie Bohnen, Lupinen oder Klee würde den Einsatz von klimaschädlich erzeugten Mineraldüngern reduzieren. Viele dieser Pflanzen sind gut als Eiweißfutter für die betriebliche oder lokale Tierhaltung geeignet und tragen so zu geschlossenen Nährstoffkreisläufen und geringeren Importen vor allem von Soja bei. Viele intensiv wirtschaftende Betriebe, die ihre Erzeugung umstellen wollen, benötigen gerade in der Übergangsphase gezielte Hilfen. Allerdings wird es nicht möglich sein, den Umbau zu einer klimafreundlichen Landwirtschaft allein mit öffentlichen Geldern zu finanzieren.

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Besserer Klimaschutz führt bei Fleisch und Milch zu einer geringeren Produktion. Auch im Ackerbau sind die Erträge niedriger. Daher ist es wichtig, dass die Bauern und Bäuerinnen faire Preise für ihre Produkte erhalten. Nur eine Kombination aus zielgerichteten öffentlichen Zahlungen und angemessenen Verkaufserlösen für klimafreundlich erzeugte Lebensmittel bietet Landwirtinnen und Landwirten ausreichende Anreize, ihre Erzeugung umzustellen.

Die Endlichkeit der Landwirtschaft

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Infografik Fleischatlas 2018 - die Belastung des Systems Erde

Die Weltbevölkerung hat sich in den vergangenen 50 Jahren verdoppelt und die globale Fleischproduktion mehr als verdreifacht. Bis 2050 wird sie noch einmal um 85 Prozent wachsen, erwartet die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) – wenn politisch kein neuer Kurs angesteuert wird. Die negativen ökologischen und sozialen Auswirkungen der industriellen Fleischproduktion sind bekannt und wissenschaftlich belegt.

Fortschreibungen bis 2030 und 2050 zeigen, dass unter diesen Bedingungen die wichtigsten globalen Entwicklungsziele nicht zu erreichen sind: die Abschaffung von absoluter Armut und Hunger, eine bessere Gesundheitsversorgung, der Schutz der Meere, die nachhaltige Nutzung der Böden, aber auch die Einhaltung der vereinbarten Ziele für den Klimaschutz und die Biodiversität.

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Für kein anderes Konsumgut der Welt wird so viel Land benötigt wie für die Herstellung von Fleisch und Milch. Obwohl nur 17 Prozent des Kalorienbedarfs der Menschheit von Tieren stammt, benötigen sie 77 Prozent des globalen Agrarlands. Knapp zwei Drittel davon sind Weiden, die durch die Tiere effizient genutzt werden. Doch das restliche Drittel ist Ackerland, das durch den Anbau von Feldfrüchten viel besser zur globalen Ernährung beitragen könnte.

Wird die Belastungsgrenze eines Ökosystems überschritten, drohen irreversible Umweltveränderungen

Jedes Jahr wird die Ackerfläche für den Futtermittelanbau größer. Für Soja lag sie 1997 bei 67 Millionen Hektar, inzwischen sind es 120 Millionen. Wenn der Konsum auf jährlich mehr als 600 Millionen Tonnen Fleisch steigt, hängt es vom Ertragszuwachs pro Hektar ab, wie stark die Futtermittelfläche wachsen muss. Konkrete Aussichten auf eine weitere Zunahme des Ertrags durch agrotechnische Innovationen oder neue Anbaumethoden gibt es aber nicht. Global steigen die Hektarerträge seit Jahren immer weniger.

Die maximale Steigerung durch Dünger und Pestizide endet vielerorts in ausgelaugten Böden, Krankheiten der Landbevölkerung und Wasserknappheit. Mehr noch: Prognosen über die Auswirkungen des Klimawandels sagen Ernteausfälle und weniger Produktivität nicht nur für Asien und Afrika, sondern auch für den „Corn Belt“ der USA und weite Teile Europas vorher. Hinzu kommt, dass beim Sojaanbau die Unkräuter nach Jahrzehnten der Unkrautbekämpfung mit Glyphosat Resistenzen gegen die Spritzmittel entwickeln.

So bleibt nur die Ausweitung der Fläche mit gravierenden Folgen. Wenn Wälder und Grasland, eigentlich Hotspots der Biodiversität, zu Monokulturen werden, weicht der im Boden gespeicherte Kohlenstoff als CO2 in die Atmosphäre und die Biodiversität nimmt ab durch den massiven Einsatz von Dünger und Pestiziden. In einem 2017 veröffentlichten Bericht macht das UN-Umweltprogramm UNEP die Ernährungssysteme für mehr als sechzig Prozent des Biodiversitätsverlustes weltweit verantwortlich. Vorn dabei: die Fleisch- und Futtermittelproduktion.

Ähnlich sieht es mit der Erderwärmung aus. Die Bedeutung der Fleischproduktion ist in der Öffentlichkeit kaum bekannt. Sie spielt auch bei den politischen Bemühungen um die Einhaltung des Klimaabkommens kaum eine Rolle. Dabei emittieren die fünf weltgrößten Fleisch- und Milchkonzerne mehr klimaschädliche Gase als der Ölriese Exxon. Das liegt nicht allein am Methanausstoß verdauender Kühe, sondern vor allem daran, dass aufgrund der Futtermittelproduktion riesige Landflächen zusätzlich in die Intensivbewirtschaftung genommen werden.

Die Erde kann die Welt ernähren – nur darf fruchtbares Land nicht für Futter- und Energiepflanzen vergeudet werden

Die 20 größten Konzerne der Branche übertreffen mit ihren jährlichen Emissionen sogar Deutschland, das viertgrößte Industrieland der Welt. Halten die anderen Wirtschaftsbereiche ihre Vorgaben ein und entwickelt sich der Fleisch- und Milchsektor im Trend der vergangenen Jahre weiter, steigt sein Anteil an den klimaschädlichen Gasen von heute 14 auf über 30 Prozent im Jahr 2030 und auf mehr als 80 Prozent im Jahr 2050.

Es kommt zudem nicht nur auf die Mengen, sondern auch die Art der Produktion an. Die FAO sieht in der kleinbäuerlichen Tierhaltung eine wichtige Einkommensquelle für Menschen mit geringem Einkommen, besonders für Frauen in Entwicklungsländern. Doch die schnelle Industrialisierung der Tierhaltung mit ihren Preisvorteilen gegenüber der lokalen Produktion und der globale Handel mit Fleisch zerstören die Lebensgrundlage kleinbäuerlicher Produzenten und Produzentinnen in vielen Ländern, besonders in Afrika. Damit rücken dann auch die sozialen Ziele der Agenda 2030, die Bekämpfung von Hunger, Armut und Geschlechtergerechtigkeit, in weite Ferne. Für die Menschheit ist die Parole „Mehr Fleisch!“ kein Versprechen, sondern eine Drohung. 

Insekten - alte und neue Nützlinge

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Effizienzvergleich von Rindfleisch und Insekten im Fleischatlas 2018

Insekten zu essen ist für viele Europäerinnen und Europäer noch immer eine gruselige Vorstellung. Da helfen auch ernährungswissenschaftliche und ökologische Argumente wenig, die für den Verzehr von Krabbeltieren, Raupen und Larven sprechen. Immerhin schaffen es einige wenige Sterneköche, mit Mehlwürmern und Grillen zu experimentieren.

Gelassen führen sie vor, dass solche Insekten auch bloß aus Eiweiß, Fett und Kohlenhydraten, Vitaminen und Mineralstoffen bestehen. Mit anderen Worten: Es sind die ganz normalen Nähr- und Wirkstoffe, die wir auch in unserer gewohnten Nahrung finden.

„Humans Bite Back“, Menschen beißen zurück: So lautete – in Anspielung auf die Wahrnehmung in der westlichen Welt von Insekten als eine Plage – der Titel einer von der UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO organisierten Tagung in Thailand im Jahr 2008. Zum ersten Mal wurde auf internationaler Ebene die Bedeutung der Insekten für die Ernährung, die Gesundheit, die Umwelt und die Existenzsicherung von Menschen in den ärmsten Ländern der Welt thematisiert.

Was in Europa fast als Speisetabu gilt, ist in weiten Teilen der Welt ein selbstverständliches Nahrungsmittel

Die FAO geht davon aus, dass Insekten zukünftig eine immer wichtigere Rolle in der Ernährung der Weltbevölkerung spielen werden, zumal sie das in vielen Teilen der Welt heute schon tun. In Asien, Afrika und Lateinamerika gehören Mahlzeiten mit Heuschrecken, Schaben, Ameisen & Co. zumindest in der jeweiligen „Ernte“- oder „Jagd“-Saison für einen – oft den ärmeren – Teil der Bevölkerung zum Alltag.

Mehr als 1.900 unterschiedliche Arten von Insekten werden derzeit weltweit konsumiert. Allerdings gibt es kaum wissenschaftliche Zahlen, welche besonders begehrt sind. Die FAO geht davon aus, dass mit mehr als 30 Prozent vor allem Käfer gegessen werden, gefolgt von Raupen, Bienen, Wespen und Ameisen.

Seit einigen Jahren ist der Genuss dieser Tiere auch in europäischen und amerikanischen Medien ein Thema, entweder mit missionarischem Eifer oder abwertender Ironie behandelt. In Europa geht es dabei weniger um die Frage, wie gut oder weniger gut sie schmecken, es werden vor allem ökologische, wirtschaftliche sowie tierethische Gründe diskutiert.

Ernährungsphysiologisch betrachtet zählt ein Großteil dieser Kaltblütler tatsächlich zu den wertvollen Nahrungsmitteln, auch wenn ihr Gehalt an Proteinen, Vitaminen und Mineralien je nach Spezies, Fütterung und Lebenszyklus – Ei, Larve, Puppe – stark variiert.

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Mit Weizenkleie gefütterte Heuschrecken weisen zum Beispiel einen doppelt so hohen Proteingehalt auf wie Artgenossen, die mit Mais gefüttert werden. Termiten und Ameisen sind extrem energiereich, je nach Art zwischen 400 und 1.300 Kilokalorien pro 100 Gramm. Der Energiegehalt von Mehlwürmern dagegen gleicht jenem von magerem Rinderfilet, und der von Heuschrecken liegt deutlich darunter.

Auch wenn Insekten also unterschiedlich bewertet werden müssen, sind sie unzweifelhaft eine brillante Alternative zu Fleisch. Als Proteinlieferanten übertreffen sie auch pflanzliche Nahrungsmittel wie etwa Hülsenfrüchte, Getreide- und Pseudogetreide, Nüsse und Sprossen, da tierische Eiweiße dem Bedarf des menschlichen Körpers besser entsprechen. 

Beim Einsatz von Insekten ist die Ökobilanz günstig

Auch ökologisch und mit Blick auf das Wohl der Tiere spricht vieles für die Insekten – im Vergleich zu der traditionellen Viehhaltung. Noch wissen wir wenig darüber, ob und wie schmerzempfindlich Insekten sind; die übliche Tötung durch Einfrieren kommt dem „natürlichen Schicksal“ der Kaltblütler, die bei geringen Temperaturen in „Winterschlaf“ fallen, aber sehr nahe.

Um sie zu züchten, könnten viele Arten auch in großen Mengen artgerechter gehalten werden als Schweine, Rinder und Geflügel. Unbestritten ist die hohe Effizienz bei der Verwertung von Futter: Während Rinder rund acht Kilogramm benötigen, um ein Kilogramm Fleisch aufzubauen, Schweine etwa fünf Kilogramm, reichen den Insekten dafür durchschnittlich zwei Kilogramm Futter. Auch der Wasserverbrauch, der bei der traditionellen Viehzucht sehr hoch ist, fällt bei der Insektenzucht gering aus.

In Europa gibt es primär ein Interesse daran, Insekten als Futtermittel für die traditionelle Fleisch- und Fischzucht zu nutzen, um den Importbedarf an Soja zu verringern. Das ist derzeit nicht erlaubt. Als ersten Schritt für die Zulassung gab die EU im Juli 2017 grünes Licht dafür, aus Insekten gewonnene Proteine in Aquakulturen zu verfüttern.

Auch für den menschlichen Konsum gibt es in vielen europäischen Ländern Vorbehalte. Die Forschungen zu möglichen mikrobiologischen und toxikologischen Gefährdungen seien noch nicht ausreichend, heißt es. Für den menschlichen Verzehr geduldet (das Lebensmittelrecht ist hier sehr unpräzise) sind in fast allen europäischen Ländern vorerst nur Insekten in unverarbeiteter Form, also ganze Heuschrecken, Grillen und Würmer.

Vorreiter bei der schrittweisen Zulassung von verarbeiteten Insekten sind Belgien, die Niederlande und die Schweiz, wo entsprechende Produkte seit Mitte 2017 im Supermarkt zu kaufen sind. Sobald verarbeitete Insekten auch in Deutschland und Österreich zugelassen werden, versprechen sich Produzenten rasche Erfolge in dem boomenden Markt der High-Protein-Produkte und der Spezialnahrung für Sportlerinnen und Sportler.  

Tierwohl - Schmerz und Leid im Stall

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Fleischatlas 2018: Elemente einer artgerechten Tierhaltung

Die Haltung von Nutztieren ist in Deutschland detailliert geregelt – jedenfalls auf dem Papier. Eine EU-Richtlinie löste 2001 die Verordnung zum Schutz landwirtschaftlicher Nutztiere und anderer zur Erzeugung tierischer Produkte gehaltener Tiere bei ihrer Haltung aus. Sie regelt in 46 Paragrafen, wie es in den Nutztierställen für Kälber, Legehennen, Masthühner, Schweine, Kaninchen und Pelztiere um Platz, Futter, Licht und Temperatur bestellt sein muss.

Die Verordnung fußt auf dem Tierschutzgesetz von 1972 und seiner Neufassung von 2006. Dessen Gebot lautet: Die Tiere müssen verhaltensgerecht untergebracht werden, sie dürfen keine Schmerzen haben, leiden oder sonst wie zu Schaden kommen.

Doch keinesfalls wird dieses Gesetz überall befolgt. Berichte über verletzte, kranke oder apathische Tiere in der Nutztierhaltung gehören zum Alltag. Der Tierschutz muss also deutlich verbessert werden. Wie gravierend die Probleme sind, zeigen Literaturstudien wie in dem Gutachten „Wege zu einer gesellschaftlich akzeptierten Nutztierhaltung“, das der Wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik (WBA) beim Bundeslandwirtschaftsministerium 2015 veröffentlichte.

An vielen Stellen reichen die Vorschriften nicht aus, um Tierhaltung deutlich stärker am Tierwohl auszurichten

Bei Mastschweinen sind bis zu 80 Prozent der Tiere verletzt oder an den Atemwegen erkrankt. Bis zu einem Drittel der Milchkühe leidet an lahmen Gelenken – Störungen des Gangbildes –, 38 Prozent an Euterentzündungen.

Bei bis zu zwei Dritteln der Masthühner haben sich die Fußballen verändert, ebenso viele leiden unter Kahlstellen wegen Federpickens. Brustbeinschäden weisen 40 Prozent auf, Knochenbrüche 53 Prozent. In der biologischen Nutztierhaltung sind die Schäden, die durch die Haltung entstehen, geringer.

Deutschland ist beim Schutz der Nutztiere kein Vorbild in Europa, sondern allenfalls im Mittelfeld angesiedelt. An den Regelungen in Schweden oder der Schweiz könnte man sich hierzulande orientieren. Doch es wird gerade einmal das umgesetzt, was seitens der EU zwingend vorgeschrieben ist. Und das ist so unzulänglich, dass der deutsche Gesetzgeber gegen seine eigenen Tierschutzprinzipien verstößt.

Um etwas zu verändern, müssen die erforderlichen Daten über die Gesundheit der Tierbestände nach einem standardisierten Verfahren erhoben werden. Denn in der politischen Auseinandersetzung argumentieren die Agrarlobbyverbände, die Verletzungen seien nicht durch die Haltung verursacht, sondern durch das schlechte Management einzelner Betriebe.

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Anders formuliert: Das Recht sei in Ordnung, es werde nur schlecht umgesetzt. Ließe sich aber in einheitlichen und repräsentativen Untersuchungen feststellen, dass die Verletzungen der Tiere auch nur annähernd in den genannten Größenordnungen des WBA-Gutachtens liegen, stünde fest, dass die gesetzlichen Vorgaben für die Haltung nicht ausreichen. Das Dauerargument, dass es sich nur um Einzelfälle handle, wäre auch statistisch belegt vom Tisch.

Unverzichtbar sind strenge, unangemeldete Kontrollen

Die Tierschutzverbände sollten zudem ein Verbands­klagerecht erhalten, um eine Nutztierhaltung durchzusetzen, die den Vorschriften zum Schutz der Tiere standhält. Auch dafür braucht es belastbare Zahlen. Sobald vor Gericht nachgewiesen ist, dass mangelhafte Vorgaben für die Nutztierhaltung zum Verstoß gegen das Tierwohlgebot führen, ist der Gesetzgeber zum Handeln gezwungen.

Die entsprechenden Vorschriften wären so lange nachzubessern, bis die Schutzvorgaben eingehalten werden. Unverzichtbar sind strenge, unangemeldete Kontrollen.

Bisher wird kaum überwacht, ob die Tierschutzvorschriften eingehalten werden, sei es aus Personalmangel, sei es aus Konfliktscheu der Aufsichtsbehörden gegenüber den Tierhalterinnen und Tierhaltern.

Eine dauerhafte Verbesserung der Zustände könnte mit finanziellen Anreizen erreicht werden. Wenn die Tiere eines Halters /einer Halterin besonders häufig verletzt oder krank sind, könnte er oder sie Fördermittel verlieren oder Geldstrafen zahlen müssen.

Die Tierhalter/-innen hätten dann ein eigenes Interesse daran, dass ihre Tiere sich nicht verletzen oder krank werden. Finanzielle Anreize und Strafen würden dann auch den Tiergruppen zugutekommen, für die es bisher keine Haltungsvorgaben im nationalen Recht gibt, etwa Rinder, Milchkühe, Puten, Enten oder Gänse. Dazu müsste der Zustand aller Tiere vor der Schlachtung kontrolliert werden.

Der Aufwand dafür ist überschaubar. Und weil der Tierschutz als Staatsziel in der Verfassung steht, ist dies auch zumutbar.


Katowice: Eine Kohlestadt schaltet auf grün

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Głodniok und Kollegen mit der von ihnen entwickelten Riechdrohne

Wer in Polen über Katowice spricht, der spricht auch über Bergbau, Kohle und Stahl. Der Grund: Die 300.000-Einwohner-Stadt im Südosten des Landes ist das Herz des polnischen Industriereviers. Hier hat Europas größter Kohlekonzern Polska Grupa Górnicza (PGG) seinen Sitz. Hier findet eine der Leitmessen der weltweiten Bergbauindustrie statt.

32.000 Jobs hängen in der umgebenden Metropolregion Oberschlesien direkt von der Steinkohle ab; bis zu 82.000 in ganz Polen. Kein Wunder, dass die Kohle vielen noch immer als Rückgrat der heimischen Wirtschaft gilt, auch wenn der Abbau längst zum Milliardengrab für den polnischen Steuerzahler geworden ist, der die Defizite ausgleichen muss.

Eine Klimakonferenz im Herzen der Kohlelobby?

Dennoch gilt, was Andrzey Ancygier von der Denkfabrik Climate Analytics so zusammenfasst: "Kohle ist in Polen nicht nur etwas, was man verbrennt. Kohle gehört zu einem großen Teil zur polnischen Identität." Umso erstaunter waren viele, dass ausgerechnet die Kohlestadt Katowice als Gastgeber für die nächste Weltklimakonferenz (COP24) in diesem Jahr auserkoren wurde.

Fragen kamen auf, etwa: Kann man den Ausstieg aus der fossilen Energieerzeugung an einem Ort verhandeln, der wie kein anderer Ort in Polen genau dafür Pate steht? Viele Klimaschützer bezweifeln, dass in den Fängen der mächtigen, polnischen Kohlelobby eine ambitionierte Klimakonferenz gelingen kann. Doch gerade in Katowice lohnt ein zweiter Blick: Die Stadt wandelt sich, in rasantem Tempo. Sie wird grüner, ja nachhaltiger. Und das ist eine Entwicklung, die viele Gesichter hat.   

Wenn Forscher aktiv werden: Unterwegs mit den Riechdrohnen

Marcin Głodniok und seine Kollegen von der Bergbau-Universität Katowice sind Teil dieses Wandels. Sie haben sich einem besonders gravierenden Folgeproblem der Kohlewirtschaft angenommen: Smog. Oft liegt zwischen November und April ein beißender, diesiger Smog-Schleier über der Stadt.

Das ist ein hausgemachtes Problem, ganz wortwörtlich. Über 80 Prozent der Privathaushalte heizen mit völlig überalterten Kohleöfen. Feinstaub und schwarzer Ruß gehen so ungefiltert in die Luft. Nicht selten wird Kohle minderer Qualität oder gar Hausmüll verbrannt. Das spitzt das Problem der Luftverschmutzung weiter zu. Das Ergebnis ist für die Gesundheit brandgefährlich: Jeder Bürger atmet pro Jahr im Schnitt 1711 Zigaretten zusätzlich ein, berichten Aktivisten vom Katowice Smog Alarm. Unfreiwillig, versteht sich.

Umweltingenieur Głodniok und seine Forscherkollegen haben deshalb die Riechdrohne entwickelt. Bestückt mit Sensoren und Kameras schwebt sie über die Dächer und Schornsteine der Stadt. Ihre Mission: Sie soll als fliegende Patrouille Heizsünder entlarven. "Wir wollen aufzeigen, an welchen Stellen es in der Stadt die meisten Luftverpester gibt", erklärt Głodniok.

Sechs Schadstoffparameter werden untersucht, wenn die Luft durch eine Schuhschachtel-große, schwarze Box unter der Drohne strömt. Das ist die Nase der Riechdrohne. Damit entsteht eine Landkarte der Luftqualität, visualisiert auf dem Laptop des Forschers.

Grüne und rote Punkte werden angezeigt, je nach Verschmutzungsgrad der Luft entlang der Flugroute. "Wir wollen ein Bewusstsein dafür schaffen, dass die Leute sich genau überlegen, was sie zuhause verbrennen, und was eben nicht."

Wenn Bürger aktiv werden: Unterwegs mit dem Guerilla-Gärtner

Doch der Wandel vollzieht sich nicht nur in der Luft. Menschen wie Witold haben sich vorgenommen, Veränderung zu pflanzen. Der Umweltaktivist und Street-Art-Künstler streift beinahe täglich durch die Straßen der Metropolregion. Er pflanzt Bäume, Sträucher und Blumen - wann und wo er will. Besonders verwaiste Grünflächen oder kahlgefegte Bürgersteige haben es dem Guerilla-Gärtner angetan.

Er selbst nennt sich "Garten-Partisan". Mitten auf dem Marktplatz von Chorzów, einem Vorort von Katowice, greift er zur Schaufel, hebt eine Grube aus und setzt eine kleine Fichte in den Boden. "Ich habe kein Dokument, was mir das erlaubt. Von daher ist es illegal", erzählt Witold während des Grabens. "Aber ich mache das ja schon eine Weile und sehe, wie die Pflanzen sich entwickeln und wie das der Stadt guttut." Nicht alles, was illegal sei, sei eben auch schlecht, schiebt er hinterher.

Der schlaksige Mitvierziger mit Kinnbart und Baskenmütze will weder auf die heimische Politik noch auf weltweite Klimaabkommen warten. Deshalb gräbt er, so oft er eben kann. Über fünfzehn Bürger kennt er, die seinem Vorbild folgen und im grünen Untergrund aktiv sind. Es soll noch weitere geben.

Die Motivation sei immer ähnlich, glaubt Witold: "Ich tue das für mich, weil ich drei bis vier Mal am Tag hier vorbeikomme und den Anblick nicht mehr ertragen konnte." Dass er die Betonwüste Stück für Stück lebenswerter und damit auch klimafreundlicher macht, dafür bekommt er zuletzt viel Lob. "Das ist einfach mein Weg, wie ich bei uns etwas bewirken will."

Wenn Überzeugungstäter aktiv werden: Unterwegs mit dem Ökostrom-Fachmann

Patryk Białas ist überzeugt, dass man den Wandel in Katowice durch überzeugende Geschichten anstößt. Solche Impulse geben ist inzwischen sogar sein Beruf geworden. Białas arbeitet am Technologiepark Euro-Centrum und berät lokale Unternehmen dabei, wie sie beim Neubau von Gebäuden in Energieeffizienz oder in erneuerbare Energien investieren. So ist er Gesicht und Stimme der Energiewende in Katowice geworden. Sein Credo: Nach der Kohle ist vor der nächsten Energierevolution. Sein zentrales Thema: Jobs.

So könnte der Erneuerbare-Energien-Sektor in Polen im Jahr 2030 gut 186.000 Menschen Arbeit geben, glaubt der Ökostrom-Fachmann. "Wenn wir das vergleichen mit den 82.000 Arbeitsplätzen im Bergbau, dann heißt das: Es gibt eine konkrete Alternative für die sehr gut vorbereiteten Bergbau-Leute."

In vielen Ländern Westeuropas oder Deutschland finden derlei Geschichten Gehör. In Polen dominiert nach wie vor die Skepsis. Zu teuer, zu unzuverlässig seien die Erneuerbaren, heißt es in Diskussionen schnell. Energie aus Wind, Sonne oder Biomasse wird oft schlecht geredet, nicht nur, aber auch, weil sie beim deutschen Nachbarn so angepriesen wird.

Die Stimmung gegenüber dem Nachbarn ist feindseliger geworden. Gerade die nationalkonservative Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) macht landesweit Stimmung gegen eine Abkehr von der Kohle als Energieträger Nummer Eins. Europäische Klimaziele will die polnische Regierung mit neuen, "sauberen" Kohlekraftwerken einhalten.

Doch Patryk Białas merkt, wie die Front gegen die Erneuerbaren bröckelt. Das Interesse sei sprunghaft gestiegen. Beim letzten regionalen Wirtschaftsforum habe sich die Zahl der Aussteller im Bereich Erneuerbare-Energien-Technologien von einem Jahr aufs nächste glatt verdoppelt. Und im Rathaus von Katowice werden Konferenzen für Klimaanpassung abgehalten.

Inzwischen gibt es sogar ein Zuschussprogramm für den Austausch alter Kohleheizungen gegen neue, möglichst regenerative Anlagen. Ein paar Schritte Energiewende, nennt Patryk Białas das zuversichtlich: "Bei uns wird der Wandel hoffentlich viel kürzer dauern als in Deutschland, aber, wir brauchen eben noch ein bisschen Zeit."

Modellregion für den Umgang mit Kohleregionen

Marcin Krupa, Bürgermeister von Katowice, ist dankbar für diese Gesichter des Wandels, auch wenn er offiziell dem Guerilla-Gärtner natürlich keine Sympathie bekunden darf. Krupa ist überzeugt, dass aus dem einstigen Kohlerevier eine Stadt für Kongresse und Kulturveranstaltungen werden kann.

Ganz bewusst vergleicht er die Entwicklung in Katowice mit der des deutschen Ruhrgebiets. "Das Internationale Kongresszentrum, in dem auch die COP24-Verhandlungen im kommenden Jahr stattfinden, soll diesen Wandel von Katowice beschleunigen", hofft der Bürgermeister. Marek Rosicki vom Umweltberatungsunternehmen Atmoterm aus Opole sieht das Ganze weniger ambitioniert. Katowice sei Modellstadt, aus ganz simplem Grund: "Es ist ein guter Ort, um zu diskutieren, was mit Kohle-Regionen passieren wird."

Dieser Beitrag wurde im Rahmen des Journalismus-Stipendiums Europäische Energiepolitik von der Heinrich-Böll-Stiftung unterstützt. Der Beitrag erschien zuerst bei der Deutschen Welle.

Digitale Energiewende? Mit Werten aufladen!

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Smart Meter

Die normative Anforderung an ein digitales Energiesystem ist, dass es im Einklang mit den ökologischen und sozialen Zielen der Energiewende steht. Dieser Beitrag reiht sich ein in eine virulente Debatte um Digitalisierung und Nachhaltigkeit.

In der technokratisch und betriebswirtschaftlich geprägten Debatte um die Digitalisierung des Energiesystems kommen ethische Aspekte kaum vor. Da geht es um „Convenience“ und „Joy of Use“ und wie Digitalisierung zur Kosteneffizienz von Unternehmen beiträgt. Die Ziele der Energiewende, also

  • lebensfreundliche, ökologisch orientierte Energieversorgung,
  • breite gesellschaftliche Teilhabe und Mitbestimmung,
  • dezentrale Energieversorgung,

und wie diese durch Digitalisierung zu erreichen sind, geraten aus dem Blick. Das führt auch dazu, dass die Schattenseiten der digitalen Technologien, wie etwa eine neue Quantität und Qualität des Rohstoff-Extraktivismus, unterbelichtet bleiben. Der einzige ethische Aspekt, der Beachtung findet, ist der Datenschutz. Gerade weil es ohne Digitalisierung nicht geht, ist es höchste Zeit, das Ganze ethisch zu fundieren.

1. Begrünen und Begrenzen: Effizienz, Konsistenz und Suffizienz sind der Dreiklang der digitalen Energiewende.

In einer Welt mit begrenzten Ressourcen ist das de facto mehr als eine normative Leitplanke, sondern eine physikalische Notwendigkeit. Ein Energiesystem ist ökologisch nachhaltig, wenn es natürliche Ressourcen wie Boden, Wasser und die Atmosphäre nicht überbeansprucht.[1] 

Die Schlüsseltechnologien der Energiewende, Sonne, Wind und Batterien, enthalten Seltene Erden und High-Tech-Metalle. Die größten Lagerstätten dieser Rohstoffe sind typischerweise nicht in Industriestaaten, sondern in Lateinamerika (Kupfer, Eisenerze, Silber, Lithium, Mangan etc.), in afrikanischen Staaten (Platin, Bauxit, Mangan etc.) und in asiatischen Staaten (Seltene Erden vor allem in China). Die Hardware der Digitalisierung bestehend aus Smart Phons, Servern, Festplatten, Bildschirmen, etc. ist ressourcenintensiv. So genannte (digitale) Zukunftstechnologie benötigen unter anderem Rohstoffe wie Lithium, Rhenium, Terbium Germanium, Kobalt, Scandium oder Tantal. Der Rohstoffbedarf schnellt weltweit nach oben. Der internationale Wettlauf um diese Rohstoffe hat längst begonnen, was unter anderem dazu führt, dass Manganknollen in 4000 Metern Meerestiefe abgebaut werden. Eine große Gefahr für dieses fragile Ökosystem.

Technologisches Maß halten

Ist Metall-Recycling hier eine Lösung? Jein! Sicherlich ist es umweltfreundlicher, Metalle wiederaufzubereiten anstatt sie zu verwerten oder sie zu beseitigen. Aber: Erstens ist Recycling nur an dritter Stelle der Abfallhierarchie[2] (Vermeidung und Reparatur sind besser). Zweitens ist das Recyclingpotenzial von vielen Zukunftstechnologien, die das Energiesystem tangieren, eingeschränkt (z.B. Smart Metering, Brennstoffzellen für mobile Geräte). Andere Materialen und Technologien (z.B. Glasfaserkabel, weiße LED, RFID, Touchscreen aus Kohlenstoff) sind gar nicht recyclingfähig.[3]  Urban Mining, Cradle-2-Cradle und sparsame „intra-technology choices“ werden ebenfalls als Möglichkeiten genannt, den sozialen und ökologischen Fußabdruck der Energiewende-Infrastruktur klein zu halten. In Zukunft wird es dank technologischer Innovationen wahrscheinlich noch mehr Möglichkeiten geben, die Hardware der digitalen Energiewende umweltfreundlicher zu machen. Aber es wäre fatal, sich darauf zu verlassen, dass es irgendwann für das sozio-ökologische Ressourcen- bzw. Abfallproblem mal technologische Lösungen (techno fixes) gibt.

Zusätzlich sollte darüber nachgedacht werden, wie die (digitale) Energiewende suffizient gestaltet werden kann. Die Verminderung und Vermeidung von digitalem und materiellem Ballast muss schleunigst mit ordnungspolitischen Instrumenten und mit Marktanreizen versehen werden.

2. Breite Teilhalbe: Die Akteursvielfalt ist das Markenzeichen der deutschen Energiewende. Die breite, bürgerschaftliche Basis ist ein Wert an sich, der im Zuge der Digitalisierung erhalten bleiben sollte

Energiegenossenschaften steigern die Akzeptanz für Erneuerbare-Energie-Projekte und tragen zur regionalen Wertschöpfung bei. Bürgerenergie schlägt eine Brücke zwischen dem Technologie-Projekt Energiewende und dem Wunsch nach sozialer Teilhabe. In einem Virtuellen Kraftwerk werden Stromproduzent/innen und Stromverbraucher/innen digital vernetzt. Im Zuge der Digitalisierung werden Bürgerinnen und Bürger zu flexiblen Erzeuger/innen und Verbraucher/innen von Energie. Über Automatisierung und Algorithmen können prinzipiell Grenzkosten gespart werden. Das führt dazu, dass es sich schon lohnt auf einer kleinen Skala zu agieren.

Welche politischen Rahmenbedingungen sind dafür notwendig? Welche politischen Rahmenbedingungen tragen zu einem fairen, digitalen Spielfeld für Konzerne und Bürgerenergie bei? 

Digitalisierung für bürgernahe und dezentrale Energiesysteme

Der Breitbandausbau muss staatlich vorangetrieben werden. Am besten zusammen mit dem Ausbau von Energie-Verteilernetzen. Für die dezentrale, bürgernahe Energiewende werden moderne Kommunikations- und Energienetze gebraucht. Wenn ein Stadtwerk also sowieso schon die Straße aufreißen muss, dann am besten direkt alle Leitungen legen.

Dezentrale, regionale und lokale Verbrauchsgemeinschaften müssen von Umlagen und Steuern entlastet werden. Die Nutzung von selbst erzeugten Strom von der EEG-Umlage befreit werden. So genannte Mieterstrommodelle auf Wohnquartiere und Gewerbemieter ausweiten.

Grundsätzlich ist Digitalisierung eine Chance die Energiewirtschaft zu diversifizieren und resilient zu machen. Die aktuelle Regulierung spielt oftmals noch den „alten Akteuren“ in die Hände. So stehen viele der Stromdaten nur bestimmten Marktakteuren wie den Netzbetreiben zur Verfügung. Eine offene Datengrundlage könnten Systemkosten reduzieren. Die Schattenseite ist, dass eine solche Transparenz das Systems anfälliger macht, also in Cybersecurity investiert werden müsste.

3.    Saubere Energieversorgung, Digitalisierung und Datenschutz müssen zusammengedacht werden. Das Primat der Datensparsamkeit muss auf allen Ebenen gelten.

Das Aushängeschild des digitalen Energiesystems sind die Smart Meters. Die intelligenten Stromzähler erfassen erzeugte und verbrauchte Strommengen und Zeiten. Die Daten werden direkt an den Messstellenbetreiber geschickt, in der Regel ist das der örtliche Netzbetreiber. Somit entfällt der jährliche Ablesetermin. Darüber hinaus kann die/der Verbraucher/in via Datenanalyse und entsprechende Software ihren/seinen Stromverbrauch optimieren. Wenn viele Erzeuger/innen und Verbraucher /innen Smart Meter haben und die Daten automatisiert austauschen, entsteht ein intelligentes Stromnetz (Smart Grid). Das steigert die Energieeffizienz, eröffnet die Möglichkeit Geld zu sparen und ist – wie weiter oben ausgeführt – notwendig, um die nötige Flexibilität rund um 100 Prozent Erneuerbare aufzubauen.

Grundlage für den stufenweisen Einbau der Smart Meter ist das Digitalisierungsgesetz vom Sommer 2016, welches auf die EU-Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) zurückgeht. Dieses Gesetz wurde und wird von Datenschützer/innen kritisch gesehen. Die kritischen Stimmen lassen sich nicht dadurch beruhigen, dass das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) die höchsten Sicherheitsstandards für Smart Meter und Smart Meter Gateway entwickelt hat. Und es stimmt ja, dass theoretisch alles gehackt werden kann. Die von den Stromzählern generierten Stromverbrauchsdaten können prinzipiell zu „Lebensauskunftsdaten“ der Verbraucher/innen werden. Es besteht grundsätzlich das Risiko, dass die Analyse, Nutzung, Sammlung, Verwertung und Vermarktung der Daten die informationelle Selbstbestimmung der Verbraucherinnen und Verbraucher gefährdet. Somit gibt es hier einen schwelenden Zielkonflikt für die Digitalisierung des Energiesystems.

Abbildung 1: Agora Energiewende (2016) Energiewende: Was bedeuten die neuen Gesetze? Zehn Fragen und Antworten zu EEG 2017, Strommarkt- und Digitalisierungsgesetz, Berlin, S. 26

Wie der schwelende Zielkonflikt zwischen Datenschutz und Systemoffenheit eingehegt werden kann

Die Grünen fordern ein Energiedatengeheimnis und ein striktes Zweckbindungsgebot der Daten, die Durchsetzung des informellen Selbstbestimmungsrechtes über die eigenen Daten und die ausreichende Aufklärung und Bildung der Verbraucher/innen. Die nicht umkehrbare Anonymisierung und Zweckbindung von „Energiedaten“ könnten in Modellprojekten von Bundes- und Landesregierungen erprobt werden. Innovative Datenschutzkonzepte wie "privacy by design/privacy by default" sind politisch stärker zu unterstützen und Anreize für Investitionen in guten Datenschutz staatlicherseits zu fördern.

Die andere Datenbaustelle ist die Datensicherheit. Ereignisse wie der Hacker-Angriff auf den Bundestag oder die Deutsche Bahn zeugen davon, dass auch kritische Infrastrukturen niemals ganz gesichert werden. Solche Angriffe werden als Vorhut von möglichen Katastrophen gelesen, die Marc Elsberg in „Black Out“ popularisiert hat: Via Internet installieren Hacker massenhaft Schadcodes auf Smart Meters und drängen die ganze westliche Welt an den Rand des Abgrunds. Schlussfolgerung oder Forderung?

4.    Zusammengefasst sind folgende Punkte die normativen Anforderungen an die Digitalisierung des Energiesystems:

  1. Digitalisierung lebt von Voraussetzungen, die sie selbst nicht erschaffen kann. Die Wahrung der natürlichen, analogen Ressourcen ist der Maßstab für gute oder schlechte Digitalisierung. In den Dienst dieser Zielfunktion muss Digitalisierung gestellt werden.
  2. Digitalisierung ist ein machtvolles Werkzeug. Digitalisierung ist kein Wert an sich und kein Selbstzweck.
  3. Die Digitalisierung des Energiesystems muss in Einklang gebracht werden mit der ökologischen Idee der Energiewende. Ökologische Ordnungspolitik muss Digitalisierung in ökologische Bahnen lenken.
  4. In der Digitalisierung liegt Potenzial, das Energiesystem in sozialer Dimension breit aufzustellen. Dezentrale Prosumer-Modelle werden durch smarte Vernetzung einfacher. Digitalisierung sollte dazu beitragen, die Akteursvielfalt des Energiesystems aufrecht zu erhalten. Das Ziel ist letztendlich ein demokratischeres Energiesystem.
  5. Digitalisierung und Datenschutz sind keine geborenen Zwillinge. Ein flexibles Energiesystem, das zu 100 Prozent auf Sonne, Wind und Co. basiert, benötigt Informationen in Echtzeit zum Nutzer/innen-Verhalten. Sonst funktioniert es nicht. Energieexpert/innen und Datenschützer/innen müssen zusammen hier über pragmatisches Daten-Ordnungsrecht verhandeln.

[1] Auf dieses Maßhalten verweist das Wort Ökologie an sich: Ökologie ist die Lehre vom Haushalt (Ökologie = altgriechisch οἶκος oikos ‚Haus‘, ‚Haushalt‘ und λόγος logos‚ Lehre‘; also „Lehre vom Haushalt“). Dieses Haushalten, oder, wenn man so will: diese Begrenzungs- und Sparpolitik muss so gestaltet werden, dass sie zu positiven sozialen Entwicklungen führt. Die ökologische Frage muss integrativ und systematisch mit der sozialen Frage verbunden werden.

[2] Europäische Union (2008): Richtlinie 2008/98/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. November 2008 über Abfälle und zur Aufhebung bestimmter Richtlinien (Amtsblatt der Europäischen Union. 22. November 2008, Artikel 4, http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/HTML/?uri=CELEX:32008L0098..., Zugriff am 16. Oktober 2017

[3] Deutsche Rohstoffagentur (DER) (2016): Rohstoffe für Zukunftstechnologien, Berlin, PDF-Version: https://www.deutsche-rohstoffagentur.de/DERA/DE/Downloads/Studie_Zukunft..., Zugriff am 26. Juli 2017, International Bank for Reconstruction and Development/The World Bank (2017): The Growing Role of Minerals and Metals for a Low Carbon Future, New York. PDF-Version, http://documents.worldbank.org/curated/en/207371500386458722/pdf/117581-..., Zugriff am 27.Juli 2017

 

Eine „grüne“ Energiewende in der Ukraine lohnt sich!

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Solarzellen und ein Windrad

Die Umstellung des Energiesektors der Ukraine auf saubere erneuerbare Energieträger macht eine Überwindung der chronischen sozioökonomischen Krise und den Aufbau einer starken Volkswirtschaft möglich. Bei verbesserter Energiesicherheit kann damit gleichzeitig ein wirksamer Beitrag gegen den globalen Klimawandel geleistet werden.

Die internationale Gemeinschaft hat sich mit dem Pariser Klimaabkommen ambitionierte Ziele gesetzt. Eine Erwärmung des Planeten um mehr als 2 Grad Celsius verglichen mit dem vorindustriellen Niveau soll vermieden und Anstrengungen zur Begrenzung des Temperaturanstiegs um nur 1,5 Grad sollen unternommen werden.

Dies erfordert innerhalb eines engen Zeitrahmens die massive Senkung der Treibhausgasemissionen und also den Umstieg auf erneuerbare Energieträger. Um die Ökosysteme global und die einzelnen Volkswirtschaften vor den möglichen katastrophalen Folgen des Klimawandels zu bewahren, müssen praktisch alle Länder bis zur zweiten Hälfte des Jahrhunderts CO2-neutral werden.

Die Energiewirtschaft, die Industrie, der Transportsektor und die privaten Haushalte müssen ihren Energieverbrauch komplett dekarbonisieren. Diese Perspektive bedeutet gleichzeitig, dass die Masse der bereits entdeckten Vorkommen der fossilen Energieträger im Boden verbleiben muss. Weltweit haben schon mehr als 50 Staaten die komplette Umstellung auf erneuerbare Energieträger zum Ziel ihrer Politik erklärt, darunter sowohl Entwicklungs- als auch Industrieländer.

Eine Reihe von Studien haben bereits die technische und ökonomische Machbarkeit im globalen Maßstab untersucht. Die ersten detaillierten Modelle wurden 2007 von Greenpeace mit dem „Energy R Evolution Scenario“ vorgelegt. Dessen fünfte Version von 2015 kommt zu dem Ergebnis, dass ein weltweiter Umstieg auf Erneuerbare im Stromsektor sogar schon bis 2030 technisch machbar wäre.

Zu ähnlichen Ergebnissen kommt eine Untersuchung der Stanford University und der University of California von 2015, in der Modelle für 139 Länder einschließlich der Ukraine berechnet wurden.

Eine Energiewende sollte so viele positive Nebeneffekte wie möglich generiert

Es ist jedoch naheliegend, das Ziel der Bekämpfung des Klimawandels durch Umstellung auf 100 Prozent Erneuerbare nicht isoliert von anderen Dimensionen nachhaltiger Entwicklung zu betrachten, etwa andere ökonomische und soziale Aspekte. Eine Energiewende sollte in einer Weise organisiert werden, die so viele positive Nebeneffekte wie möglich generiert.

Erneuerbare Energien haben dafür viel anzubieten – insbesondere auch in Bereichen, die gerade für die Ukraine von großer Bedeutung sind. Beispielhaft genannt seien die Reduzierung von Luftverschmutzung und somit eine Verbesserung der allgemeinen Gesundheit der Menschen, eine verbesserte Energiesicherheit durch Überwindung der Abhängigkeit von Rohstoffimporten sowie zahlreiche Vorteile des modernen dezentralen Einsatzes erneuerbarer Energien wie eine hohe Beschäftigungsintensität auch in strukturschwachen Gebieten.

Dank der politischen Botschaften des Pariser Gipfels haben manche Entwicklungen auch schon Fahrt aufgenommen und die Ukraine muss nicht von Null starten.

China und andere globale technologische Vorreiter arbeiten bereits am Ersatz fossiler Energieträger. Es wäre nicht nur ökonomisch irrational, sondern sogar gefährlich für die Ukraine, den Trend zu verschlafen und stattdessen die Abhängigkeit von russischen Lieferungen zu verfestigen.

Energieeffizienz und den Umstieg auf Erneuerbare zur nationalen Priorität zu machen ist eine logische Konsequenz der akuten strukturellen Probleme des maroden und ineffizienten ukrainischen Energiesektors, des geopolitischen Umfelds und des Kurses der Annäherung an die EU.

Die Studie „Transition of Ukraine to 100% Renewable Energy by 2050“

Unter der Leitung von Fachleuten des Instituts für Wirtschaft und Prognose der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine und mit Unterstützung der Heinrich-Böll-Stiftung entstand seit 2016 eine umfassende Studie, in deren Rahmen verschiedene Szenarien für die Entwicklung der ukrainischen Energiewirtschaft samt ihrer Rückwirkungen auf Transport-, Industrie-, Landwirtschafts- und andere Sektoren entwickelt und verglichen wurden.

Die Ergebnisse der Modellierung wurden im Herbst in ukrainischer und englischer Sprache im Bericht „Transition of Ukraine to 100% Renewable Energy by 2050“ publiziert. Die Untersuchung zeigt auf, dass die Ukraine großes Potenzial hat, den Weg einer nachhaltigen Transformation erfolgreich zu beschreiten. Das Forscherteam um Oleksandr Diachuk entwickelte drei Szenarien: Konservativ, Liberal, Revolutionär.

Im „revolutionären“ Szenario wird eine proaktive und konsequente politische Unterstützung von Energieeffizienz und des Ausbaus erneuerbarer Energien angenommen. Der Anteil der Erneuerbaren am gesamten Primärenergieverbrauch der Ukraine steigt nach diesem Szenario bis 2050 auf 91 Prozent.

Absolut betrachtet sinkt dabei dieser Primärenergiebedarf, aber dank Effizienzgewinnen um 27 Prozent verglichen mit 2012 (oder um 42 Prozent verglichen mit dem konservativen Szenario, siehe Grafik). Die Energieintensität würde sich demnach im Vergleich zu 2012 um den Faktor 4,7 verbessern lassen. 9 Prozent verbleiben nicht erneuerbar, weil das Modell den Fortbestand von metallurgischer und chemischer Industrie vorsieht, für die weiterhin ein Bedarf an fossilen Ressourcen im Wesentlichen für die stoffliche Nutzung angenommen wird.

Im Gegensatz zur sehr schwer prognostizierbaren Zukunft der energieintensiven Industrien zeichnen sich globale Trends für Mobilität, Haushalte und Dienstleistungssektor schon etwas klarer ab. Die Elektrifizierung des Transportsektors, sei es über direkt elektrisch betriebene Fahrzeuge oder über strombasiert erzeugte Kraftstoffe, sowie verbesserte Technologien am Bau und in der Produktion und für die Beheizung ermöglichen hier deutliche Effizienzsteigerungen und den Einsatz erneuerbarer Energien für diese Zwecke.

Entsprechend ist ein deutlich steigender (erneuerbarer) Stromanteil am Endenergieverbrauch zu erwarten, der schrittweise Öl, Gas, Kohle und Atom ersetzt. 2012 lag der Stromanteil am Endenergiebedarf lediglich bei 17 Prozent. Für 2050 sind im „revolutionären Szenario“ nun 56 Prozent angenommen. Die Potenziale der erneuerbaren Energieträger in der Ukraine sind für eine solche Entwicklung ausreichend.

Im Ergebnis der Untersuchungen der Studie ist ein vollständiger Umstieg im Stromsektor auf Erneuerbare nicht nur technisch möglich, sondern auch ökonomisch sinnvoll. Nicht zuletzt ist mit einem solchen Weg auch eine Reduzierung der Treibhausgasemissionen in Übereinstimmung mit den Pariser Klimazielen machbar.

Die Modellierung der Lapeenranta University of Technology (Finland)

Die Studie „The role of storage technologies for the transition to a 100% renewable energy system in Ukraine“ untersucht lediglich den Stromsektor. Auch hier ist im Ergebnis ein graduelles Auslaufen der fossilen und nuklearen Stromerzeugungskapazitäten und deren hundertprozentigen Ersatz durch Erneuerbare bis 2050 sowohl technisch machbar als auch ökonomisch darstellbar.

Der letzte nukleare Block verbleibt auch hier noch bis in die zweite Hälfte der 2040er Jahre am Netz. Dem Staatsunternehmen Energoatom wird hiermit auch Zeit eingeräumt, die entsprechenden Rücklagen für den späteren Rückbau der Reaktoren und die Deponierung der radioaktiven Abfälle zu bilden.

Im Gegensatz zur erstgenannten Studie berechnen die Autor/innen die Strombereitstellung auch auf stündlicher Basis im Tagesverlauf zu verschiedenen Jahreszeiten, denn Wind- und Solarstromerzeugung fluktuieren bekanntlich erheblich. Zur Ausbalancierung werden für eine Übergangszeit noch Gasturbinen verfügbar bleiben müssen, bevor nach 2030 die Speicher eine immer größere Rolle einnehmen werden.

Das Modell geht von der Nutzung verschiedener Speichertechnologien von Batterie- über Wasser-Pump- und Druckluft- bis hin zu Wärmespeichern aus. Schon 2035 können 90 Prozent des Strombedarfs aus Erneuerbaren gedeckt werden. Eine weitere Kostendegression für die Stromerzeugung aus Erneuerbaren und für die Speichertechnologien wird angenommen.

Kosteneffiziente technologische Lösungen für den Beginn der Transformation stehen aber auch heute in der modernen Welt schon ausreichend zur Verfügung. Die größere Herausforderung scheinen regulatorische und politische Hindernisse, die dem Durchbruch von Effizienztechnologien und erneuerbaren Energieträgern im Weg stehen.

Nationale Klimaschutzziele und die Energiestrategie 2035

Die Energiestrategie der Ukraine bis 2035, die im August 2017 vom Kabinett beschlossen wurde, beschreibt und beklagt zwar die große Ineffizienz der heutigen Energieinfrastruktur und erkennt einen dringenden Bedarf für eine Modernisierung. Pro Einheit des generierten Bruttoinlandsprodukts (BIP) wendet die Ukraine derzeit 3 bis 4 mal mehr Energie auf als im Durchschnitt der EU-Länder und ist damit eine der energieintensivsten Volkswirtschaften Europas.

Die Zielwerte der Energiestrategie für die Steigerung der Energieeffizienz in Höhe scheinen jedoch eher unambitioniert. Laut des Dokuments soll die Ukraine selbst bis 2035 die heutige Energieintensität von Polen oder der Slowakei nicht erreichen. Die Ukraine verbliebe technologisch rückständig und energieverschwenderisch.

Der „National Energy Efficiency Action Plan 2020“ beziffert für die Periode 2015-2020 den (nicht nur staatlichen) Investitionsbedarf für Energieeffizienzmaßnahmen auf 35 Mrd. Euro bzw. 7 Mrd. Euro pro Jahr, um den Endenergieverbrauch um 9 Prozent gegenüber dem durchschnittlichen Niveau der Jahre 2005 bis 2009 zu reduzieren und die Energieinfrastruktur und den Gebäudebestand signifikant zu modernisieren.

De facto wurden aus dem Staatshaushalt 2017 lediglich 26 Mio Euro explizit für die Verbesserung von Energieeffizienz aufgewendet. Dies zeigt die nach wie vor zu geringe Priorität, die dem Thema eingeräumt wird, auch wenn inzwischen der ursprünglich ähnlich gering angesetzte Budgetposten für 2018 deutlich erhöht werden konnte. Die Erreichbarkeit der Energieeinsparziele bis 2020 bleibt somit fraglich.

Nach Expertenschätzungen liegen allein im Wohnungswesen realistische Einsparpotenziale im Gegenwert von 11 Mrd Kubikmeter Erdgas bzw. 2 Mrd Euro pro Jahr.

Neben der durch den Verzicht auf Importe steigenden Energiesicherheit stellen derartige Energieeffizienzinvestitionen erhebliche Anreize für die heimische Wirtschaft dar und stimulieren private Investitionen in der Bauwirtschaft, Anlagenbau und Installation. Viele Jobs können so geschaffen und neue Steuereinnahmen generiert werden. Staatliche Anreizsetzung in diesem Bereich zahlt sich für das Land aus und reduziert den Mittelabfluss für Rohstoffimporte.

Die in der Energiestrategie fehlenden absoluten Ziele für Energieeinsparungen in der Perspektive bis 2035 werden mit der Unsicherheit der Prognosen im Kontext der Besetzung von Landesteilen gerechtfertigt.

Laut der der Energiestrategie zugrundeliegenden Prognose wird unter der Bedingung der Wiedereingliederung der Krim und des heute besetzten Donbass eine Steigerung des Energieverbrauchs der Ukraine um 6,5 Prozent verglichen mit dem Durchschnitt der Jahre 2010 bis 2012 vorhergesagt.

Die Struktur der Energiequellen bleibt bis auf den auf Kosten der Kohle steigenden Anteil erneuerbarer Energien nahezu unverändert und die Abhängigkeit von zu einem erheblichen Teil importierten fossilen Rohstoffen bliebe substanziell auch über 2035 hinaus bestehen.

Irreführenden Ziele bezüglich der Reduzierung von Treibhausgasemissionen

Während die Energiestrategie für das Jahr 2035 einen Anteil der Erneuerbaren von 25 Prozent am Endenergieverbrauch anpeilt, können im Vergleich dazu in der Studie des Instituts für Wirtschaft und Prognose Kiew zu diesem Zeitpunkt schon 40 Prozent erreicht werden, wobei in der Studie aufgrund umgesetzter Effizienzmaßnahmen der Energiebedarf absolut um 28 Prozent niedriger ausfällt. Viel größer ist die Diskrepanz, wenn allein der Stromsektor betrachtet wird.

Die Lapeenranta Universität hält im Jahr 2035 einen neunzigprozentigen Anteil von erneuerbarem Strom für möglich, das Kiewer Institut rechnet mit 63 Prozent, die Energiestrategie aber nur mit 25 Prozent, was angesichts der derzeitigen globalen Trends und der schon jetzt niedrigen Kosten für Wind und Solar ein wirklich sehr geringer Wert ist.

Die fehlende Ambition und Inkonsistenz der Energiestrategie wird am offensichtlichsten in den irreführenden Zielen bezüglich der Reduzierung von Treibhausgasemissionen. Im Jahr 2012 betrugen diese lediglich 42,6 Prozent des Niveaus von 1990, das global i.d.R. als Basisjahr verwendet wird. Die Energiestrategie setzt als Ziel jedoch 50 Prozent, was also praktisch einer Erhöhung der Emissionen gegenüber 2012 gleichkäme.

Selbst im theoretischen „konservativen“ Szenario des Kiewer Instituts, das für den Zeitraum weder Energieeffizienzmaßnahmen noch einen steigenden Anteil Erneuerbarer annimmt, würden trotz Wirtschaftswachstums die Emissionen nur auf 56 Prozent des 1990er Niveaus ansteigen. Im jährlichen Ranking des „Climate Action Tracker“ (CAT) landete die Ukraine damit prompt auf dem letzten Platz bezüglich der gesetzten Klimaschutzziele.

Nach dem „revolutionären“ Szenario kann das Emissionsniveau dagegen bis 2030 schon auf 28 Prozent und bis 2050 sogar auf nur noch 10 Prozent des Niveaus von 1990 gesenkt werden. Dies zeigt die dringende Notwendigkeit, hier ein realistisches Ziel zu formulieren und beim 2018 anstehenden „Review“ der Ziele im Rahmen des Pariser Klimaabkommens einzureichen.

Die erste Zielsetzung der Ukraine in diesem Prozess im Jahr 2015 war sogar noch schwächer und lag bei 60 Prozent des 1990er Niveaus. Ambitioniertere Ziele würden hier das nötige Umfeld für innovative Firmen und Investitionen in die „grüne“ Modernisierung schaffen.

Politik für eine Transformation des Energiesektors

Wie beschrieben gibt es viele Gründe für eine Ausrichtung der Energiepolitik auf die Ziele der Energieeffizienz und des Umstiegs auf erneuerbare Ressourcen. Klimaschutz ist nur ein Teil des Nutzens eines solchen Wandels. Eine hohe Energieintensität der Volkswirtschaft ist nicht nur ein Wettbewerbsnachteil und ein Merkmal technologischer Rückständigkeit, sondern ist ein Risiko für die Energiesicherheit des Landes und führt aufgrund von notwendigen Importen der Energieträger zu Abfluss von Kapital aus dem Land.

Die Fortsetzung eines ‚Business as Usual‘ würde diese Probleme nur verstärken. Die Investitionen in die Modernisierung des Energiesektors werden die Entwicklung für einige Jahrzehnte prägen. Daher ist eine langfristige und auch über 2035 hinausgehende Betrachtung von Zielsetzungen erforderlich.

Ein weiterer Aspekt ist die erhebliche Umweltverschmutzung, die von den tragenden Säulen des derzeitigen Systems ausgeht. Aufgrund der starken Abhängigkeit von der Kohle im Stromsektor, schlechter Kraftstoffqualität im Transportsektor und des Mangels an wirksamer Umweltregulierung für Industrie und Kraftwerke ist die Luft in einigen Städten der Ukraine schlechter als überall sonst in Europa und die damit zusammenhängenden Krankheits- und Sterberaten sind extrem hoch.

Die wirklichen sozialen und ökonomischen Kosten der Verschmutzung von Luft, Wasser und Böden sind wegen des Mangels an systematischer Forschung zu diesen Themen weitgehend unbekannt. Begründete Schätzungen gehen von mehr als 9 Mrd. Euro pro Jahr Folgekosten allein des Stromsektors der Ukraine aus.

Nicht zuletzt verlangen auch die ukrainischen Ambitionen auf eine weitere Annäherung an die EU die Einhaltung von Emissionsstandards, die Förderung von Energieeffizienz und Zugang erneuerbarer Energien zu liberalisierten Stromnetzen und Märkten und die Verringerung der Abhängigkeit von fossilen Energieträgern.

Wenn die Ukraine voranschreiten möchte mit dem Aufbau einer modernen postindustriellen Volkswirtschaft, dann sollte die Entwicklung von wissensintensiver und sauberer Produktion und Innovation zu einer echten politischen Priorität werden, die konsistent von allen Ebenen von Politik und Verwaltung unterstützt wird.

Keine klare Position der ukrainischen Regierung

Einzelne führende Beamte erkennen bereits die Notwendigkeit eines solchen Kurses der Ukraine, aber es gibt noch keine klare Position der Regierung insgesamt oder auch nur einzelner politischer Gruppen oder Fraktionen, die sich damit profilieren wollten.

Als positiv bemerkenswert kann hier die Rede des Ministers für Umwelt und Natürliche Ressourcen der Ukraine, Herrn Ostap Semerak, im Juni 2017 auf der Tagung „Clean Energy for a Sustainable Future“ in Wien angeführt werden, in der er die Bereitschaft der Ukraine unterstrich, Teil der globalen Bemühungen gegen den Klimawandel zu werden und die Notwendigkeit eines „grünen“ Politikwechsels auf Basis von Effizienz und Erneuerbaren anerkannte.

Gleichzeitig demonstriert das entscheidendere Ministerium für Energie und Kohleindustrie der Ukraine sein weitgehend fehlendes Bewusstsein für die Problematik. Anstatt globale Trends und eine langfristige Energiewende-Vision konzeptionell aufzugreifen entwickelt das Ministerium Strategien zur Erhöhung der einheimischen Kohleproduktion durch eine Reorganisation der bislang noch im Staatsbesitz befindlichen Bergwerke in Richtung einer „Nationalen Kohle-Gesellschaft“.

Wie das Ministerium erklärt, sollen zunächst defizitäre Bergwerke geschlossen, potenziell profitable dagegen mit staatlicher Unterstützung modernisiert und danach privatisiert werden. Mit einem solchen Verfahren würden erneut soziale und ökologische Kosten der Kohlewirtschaft vergesellschaftet und von den Unternehmen auf die betroffenen Kommunen abgewälzt, während Gewinne privatisiert würden.

Das vom Ministerium angestrebte Ergebnis, nämlich die Schaffung eines zweiten großen Kohle- und Energiekonzerns in der Ukraine, könnte eher zu neuen Marktverzerrungen führen anstatt eine De-Monopolisierung und einen sozial gerechten Strukturwandel zu ermöglichen und zu gestalten.

Der Vertrag der Europäischen Energiegemeinschaft

Das Ministerium hat es bislang nicht geschafft, wirksame Anreize und Finanzierungsinstrumente für die Betreiber der Kohlekraftwerke, deren Durchschnittsalter schon die Marke von 45 Jahren überschreitet, zu kreieren und Maßnahmen zur substanziellen Reduzierung der höchst gesundheitsschädlichen Staub-, Schwefel- und Stickoxidemissionen einzuleiten.

Ein Hindernis ist das Fehlen einer klaren Perspektive für einzelne Standorte, die auch nach der geplanten Synchronisierung mit dem europäischen ENTSO-E-Netz mittelfristig weiterbetrieben werden sollen bzw. müssen.

Die Umsetzung des Nationalen Emissions-Reduzierungs-Plans (NERP) in Bezug auf die wichtigsten Schadstoffe aus großen Verbrennungsanlagen mit einer Leistung von mehr als 50MW ist eine der entscheidenden Verpflichtungen der Ukraine aus ihrer Mitgliedschaft in der Europäischen Energiegemeinschaft.

Mittelfristig können die schädlichen Emissionen damit um die Hälfte reduziert werden. Ein verbindlicher Zeitplan für die schrittweise Reduzierung der Kohlenutzung gäbe allen Seiten genügend Investitionssicherheit. Der Vertrag der Europäischen Energiegemeinschaft ist neben dem EU-Assoziierungsabkommen der wichtigste Treiber für die Reformen im gesamten Energiesektor der Ukraine – obwohl auch hier bereits erhebliche Verzögerungen eingetreten sind.

Die EU und das Sekretariat der Energiegemeinschaft bieten konstruktive Unterstützung bei der Entwicklung eines konsistenten Reformwegs in Richtung einer nachhaltigen Entwicklung an.

Behörden müssen besser miteinander kooperieren

In der politisch-administrativen Praxis stellt sich die Koordinierung verschiedener Sektorprogramme in Verantwortung unterschiedlicher Ministerien als Schwierigkeit dar. Ziele und Umsetzungsstrategien müssen harmonisiert werden, Behörden besser miteinander kooperieren. Die beiden vorgestellten Energiewende-Studien bieten gute Orientierung für mögliche Leitlinien und systemischen Wechselbeziehungen auch zwischen Sektoren.

Sie können jedoch nur ein Beginn für einen längeren Prozess sein, der viele Ideen, Kreativität und Ausdauer zur Entwicklung passgenauer Strategien für einzelne Sektoren erfordert. Gerade in Fragen der möglichen Kopplungen zwischen Stromsektor auf der einen und dem Wärme- und Transportsektor auf der anderen Seite stecken vermutlich noch weitere ökonomische Potenziale eines auf Erneuerbaren basierenden Systems.

Das Ziel des Nationalen Aktionsplans für Erneuerbare Energien, bis 2020 einen Anteil der Erneuerbaren am Primärenergieverbrauch in Höhe von 11 Prozent zu erreichen, ist nach Ansicht einiger Expert/innen inzwischen schon kaum noch realistisch. 9 Prozent gelten hier als realistische Größe. Dennoch kann die Ukraine mit der richtigen Rahmensetzung schnell aufholen, so dass das Ziel von 19 Prozent bis 2025 im „revolutionären“ Szenario noch realistisch scheint.

Wichtiger als die Diskussion über einzelne Prozentpunkte in der ferneren Zukunft sind die mehr oder weniger offensichtlichen nötigen ersten Schritte wie die Schaffung eines stabilen regulatorischen Rahmens mit einer verlässlichen politischen Unterstützung des Transformationsweges, sodass Investor/innen Vertrauen gewinnen und Kapital bereitgestellt und heimische Kapazitäten sowohl in der Produktion als auch für nötige Dienstleistungen im Sektor weiter aufgebaut werden können.

Damit eng verbunden ist die Notwendigkeit eines diskriminierungsfreien Strommarktes mit wettbewerblichen Bedingungen und die Schaffung einer unabhängigen und kompetenten Regulierungsbehörde, die ggf. auf Missbrauch von Marktmacht wirksam reagieren kann.

Eine Dezentralisierung der Versorgung

In vielen Fällen, insbesondere im Wärmesektor, ist es preiswerter, den Energieverbrauch durch Investitionen in Effizienztechnik zu verringern als neue Erzeugungskapazitäten zu bauen. Dies entspricht nur zuweilen nicht der Geschäftslogik der Energieunternehmen und bedarf einer bewussten politischen Steuerung.

Ferner sollte im Grundsatz eine Dezentralisierung der Versorgung verfolgt werden. So können an lokale Verbraucher/innen angepasste Lösungen mit guter Integrierbarkeit der dezentralen erneuerbaren Stromerzeugung verfolgt werden. Private Verbraucher/innen, lokale Genossenschaften und kleine Unternehmen sollten rechtlich die Möglichkeit erhalten, sich selbst und lokale Netze mit Strom und Wärme zu versorgen.

Eine solche Politik stärkt sowohl die Akzeptanz für die Energiewende als auch den Wettbewerb und die Sicherheit der Versorgung und eröffnet ökonomische Perspektiven auch in peripheren Gebieten.

Als kritischer Faktor für schnelle Erfolge eines solchen Reformweges kann der notwendige politische Gestaltungswille und die Bildung einer breiten Akteurskoalition gelten, die konstruktiv am Projekt mitwirkt. Dabei ist unwahrscheinlich, dass die Regierung den aktivsten Part einnehmen wird. Vielmehr braucht es parallel eine kundigen Öffentlichkeit, progressive Unternehmer/innen, beispielgebende Kommunen und Bürgermeister/innen sowie internationale Unterstützung.

Global betrachtet hat diese Transformation längst begonnen. Technologische Innovationen und Digitalisierung lassen für die nächsten Jahre eine starke Dynamik der Prozesse erwarten, mit großen Chancen auch für Länder, die vielleicht bisher nicht zu den „Spitzenreitern“ der Entwicklung zählten.

Längerfristige Visionen, wie sie die beiden hier vorgestellten Studien entwickeln, sind nicht als Zukunftsprognose misszuverstehen, sondern sie helfen dem Land den Horizont für eine konstruktive Diskussion über das anzustrebende Entwicklungsmodell zu führen.

Übersetzung aus dem Englischen: Robert Sperfeld. Der Text erscheint parallel in der Februar-Ausgabe der Ukraine-Analysen, Nr. 195.

 

Weitere Informationen und Lesehinweise:

Brasilien: Einschneidende Rückschritte im Umwelt- und Indigenenschutz

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Michel Temer und Blairo Magg

Parlamentarischer Putsch, Wirtschaftskrise und allgemeine Diskreditierung staatlicher Behörden haben in Brasilien eine Atmosphäre geschaffen, in der der Diskurs – das gesprochene und geschriebene Wort – eine besondere Bedeutung erlangt hat. Es sind die Feinheiten der amtlichen Doppelzüngigkeit der Temer-Regierung, in denen Widerspruch und Bedrohung stecken: „Flexibilisierung“ der Umweltbestimmungen, „Modernisierung“ der Arbeitswelt, „Umstrukturierung“ von Ministerien und staatlichen Stellen, „Konzessionen“ an Interessenten, „Rückgewinnung“ des Vertrauens, „Sicherung“ des Reformprogramms; ein Blumenstrauß an Begrifflichkeiten, mit einem soften, programmatischen Klang – wohl damit sich die Bevölkerung leichter an die Euphemismen gewöhnt.

Landraub ist nicht länger Landraub, sondern staatlich geförderte und sanktionierte Landgewinnung. Auf Eis gelegt sind Überwachung der Umweltgesetzgebung und Bekämpfung von Sklavenarbeit. Investitionen für Gesundheits- und Bildungswesen werden immer weiter zurückgefahren. Die dem Justizministerium unterstehende brasilianische Behörde zum Schutz der indigenen Bevölkerung des Landes FUNAI erlebt den kritischsten Moment in den Jahrzehnten ihrer Existenz. Und die parteienübergreifende Agrarlobby im Parlament – die bancada ruralista– darf sich eingeladen fühlen, Gesetzesentwürfe anzunehmen, die ganz in ihrem Sinne sind. Jedenfalls: Der rote Teppich für sie ist schon ausgebreitet.

Schockdoktrin, sagen einige nicht ohne Grund. Die Strategie ist simpel: Es geht darum, die größtmögliche Anzahl an Absurditäten in kürzest möglicher Frist durchzudrücken, damit die Bevölkerung keine Zeit zum Reagieren hat. Und zum anderen darum, der organisierten Zivilgesellschaft die Möglichkeit zu nehmen, einem so breiten und koordinierten Angriff adäquat entgegenzutreten. Aber wenn es auch stimmt, dass Brasilien mithilfe des reaktionärsten und korruptesten Kongresses seit der Diktatur in weniger als zwei Jahren Temer-Regierung um 50 Jahre zurückgeworfen wurde, so stimmt es doch ebenso, dass nicht alles, was diese Regierung durchsetzen will, einfach so hingenommen wird.

Exemplarisch dafür steht der Fall Renca. Ende August 2017 hatte die Regierung Temer das 1984 zum Naturschutzgebiet erklärte 46.000 km2 große Areal Renca (Reserva Nacional de Cobre e Associados) im Norden des Landes per Federstrich aufgelöst und für den Bergbau freigegeben. Das zweizeilige Dekret beinhaltete weder konkrete Regelungen für die Rohstoff-Ausbeutung, noch für die voraussichtliche Fördermenge, und schon gleich gar nicht für die Sicherung der dortigen Naturschutz- und indigenen Gebiete. Eine gegenteilige Stellungnahme des Umweltministeriums wurde in den Wind geschlagen. Stattdessen wurden kanadische Unternehmen über die anstehende Entscheidung schon mal vorinformiert. Aber der durch die Zivilgesellschaft, die Umweltbewegung, die NGOs, die nationale und internationale Presse und sogar durch einige berühmte Persönlichkeiten ausgeübte Druck erreichte mithilfe einer wahren Rechts-Schlacht die Aussetzung des Dekrets und damit den Erhalt des Schutz-Status für das Renca-Gebiet. Damit ist ein großes Areal fast vollständig erhaltenen Urwalds zwischen den nordbrasilianischen Bundesstaaten Amapá und Pará vorerst gerettet.

Doch es bleibt noch viel zu tun. Die gewonnene Schlacht ist nur ein Etappensieg. Schließlich gilt Temer als Spezialist für das Lampedusa-Paradoxon: Alles muss sich ändern, damit alles bleibt, wie es ist. Doch damit nicht zufrieden, geht er noch weiter: Alles soll noch schlechter werden, aber bitte mit dem Anschein von Normalität!

Kürzungen im Umweltministerium mit Kaskadeneffekt

Im März 2017 verkündete Temer Kürzungen im Staatshaushalt um mehr als 42,1 Milliarden Reais (ca. 12,4 Milliarden Euro/Wechselkurs vom 29.03.2017). Institutionen, die dazu geschaffen worden waren, die Folgen von illegitimer Landnahme (die sogenannte grilagem), und von illegaler Diamanten- und Goldsuche zu mildern, die sich also hauptsächlich mit sozioökologische Konflikten befassten, konnten dadurch bestimmte Basisdienstleistungen nicht mehr erbringen, was letztlich deren Abbau gleichkam. Das Umweltministerium hatte früher ein Budget von 911 Millionen Reais (ca. 268 Millionen Euro) zur freien Verfügung (gastos discricionários), einschließlich des Änderungshaushaltes (eingebracht durch emendas colectivas); heute verfügt es nur noch über 596,5 Millionen (ca. 175,5 Millionen Euro) jährlich. Das ist eine Kürzung um mehr als 315 Millionen Reais (92,7 Millionen Euro), d.h. fast ein Drittel des Ministeriumsbudgets.

2017 betrug das Budget des Umweltministeriums einschließlich aller zugehörigen Institutionen (Ibama, ICMBio, Serviço Florestal Brasileiro, Agência Nacional das Águas, Fundo Nacional do Meio Ambiente, Fundo Nacional sobre Mudança do Clima e Jardim Botânico do Rio de Janeiro) insgesamt 2,1 Milliarden Reais (0,62 Milliarden Euro). Es ist damit eines der niedrigsten Budgets seit 2001.

Da 41 Prozent des Gesamtbudgets für Gehaltszahlungen an das Personal (und andere Fixkosten) benötigt werden, bleiben also 59 Prozent, über deren Ausgabe oder Nichtausgabe das Ministerium frei entscheiden darf – die besagten frei verfügbaren Mittel. Doch genau die sind von der Kürzung des Haushaltes um ein Drittel betroffen. Dies erschwert die ohnehin nicht einfachen Aufgaben des Ministeriums: Bekämpfung der Abholzung, Ausgabe und Überwachung der Umweltschutz-Zulassungen für Unternehmen (durch Ibama und regionale Behörden), Gewährleistung der Aufsicht und der Instandhaltung von 327 staatlichen Naturschutzgebieten (durch ICMBio) und Übernahme der Führungsrolle bei der Implementierung von nationalen Politiken zu Themen wie Klimawandel, Wasserressourcen oder Festabfälle.

Landgrabbing-Gesetz: direkte Aufforderung zu kriminellem Handeln

Gegen den durch Temer im Juli 2017 befürworteten Gesetzesentwurf Nr. 13.465/2017, bekannt geworden als „Landgrabbing-Gesetz“ (Lei da Grilagem), hat die Generalstaatsanwaltschaft der Republik aufgrund der möglichen Verfassungswidrigkeit Anklage erhoben. Das Vorgehen der bancada ruralista ist in höchstem Maße sträflich und zeigt deutlich deren totalen Mangel an Anstand und Schamgefühl sowie ihre Überzeugung, ein Gesetz durchbringen zu können, von dem Ex-Staatsanwalt der Republik Rodrigo Janot schreibt, dass es jenseits der Tatsache, auf die Schnelle und in einem außerverfassungsmäßigen Raum zustande gekommen zu sein, ein Gesetz ist, das einer Vielzahl von verfassungsmäßig verankerten Prinzipien und Regelungen widerspricht, wie: dem Recht auf Wohnen; dem Eigentumsrecht; der Pflicht der Abstimmung mit Agrarpolitik und Nationalplan für Agrarreform im Falle der Nutzung von öffentlichen Flächen und ungenutzten Gebieten; dem Rückschrittsverbot; der Vorschrift über die Zahlung von Agrarreforms-Entschädigungen in der ausschließlichen Form von landwirtschaftlichen Schuldtiteln; der Forderung der Bevölkerungsbeteiligung an der Gemeindeplanung und anderen mehr.

Für Janot schafft also das Gesetz Nr. 13.465 die Voraussetzungen für die massenhafte Privatisierung öffentlicher Güter. Deren düsteres Ergebnis wäre die Zerschlagung aller bisherigen Errungenschaften von Verfassung, Verwaltung und Bevölkerungsengagement für die Demokratisierung von Zugang zu Wohnraum und Grundbesitz, und ebenso die Gefährdung des Umweltschutzes für gegenwärtige und künftige Generationen.

Aufs Höchste alarmiert bestätigen soziale Organisationen, dass das „Landgrabbing-Gesetz“ öffentliche Ländereien, Wälder, Gewässer und bundeseigene Inseln betreffen würde. Und das nicht nur in Amazonien, sondern auch in dem per Verfassung zum nationalen Kulturerbe erklärten Brasilianischen Küstengebiet. Denn es erlaubt die Legalisierung der Besitzverhältnisse von Ländereien, die zwischen 2004 und 2011 illegal in Beschlag genommen wurden und erhöht deren Maximalgröße von 1.500 auf 2.500 Hektar. Darüber hinaus ermöglicht es Landerwerb zu den mehr als moderaten Preisen der Incra-Tabelle (Incra: Instituto Nacional de Colonização e Reforma Agrária – die staatliche brasilianische Regierungsinstitution zur Regelung von Fragen der Agrarreform), die für den Kauf pro Hektar Land nur 10-50 Prozent des Marktwertes vorsieht.

Ohne Wenn und Aber bestätigt Janot, dass „das Gesetz tiefe und irreversible Auswirkungen auf die Besitzstruktur an Grund und Boden auf dem gesamten Nationalgebiet haben wird, sei es durch die Ermunterung zur illegalen Landnahme („grilagem“ = „Landraub“) und die dadurch vorauszusehende Zunahme von Landkonflikten, sei es durch die Abschaffung der Minimalbedingungen für die Fortführung entsprechender Politiken auf Grundlage der Verfassung“. Gemäß Imazon (Instituto do Homem e Meio Ambiente da Amazônia:  Forschungsinstitut für die Förderung nachhaltiger Entwicklung in Amazonien) würde der Schaden für den brasilianischen Staatshaushalt allein für die 61 Prozenz der Landesfläche umfassende Region Amazônia Legal, welche die Staaten Acre, Amapá, Amazonas, Pará, Rondônia, Roraima, Tocantins in ihrer Gesamtheit und Teile der Staaten Maranhão und Mato Grosso soziopolitisch zusammenfasst,19 Milliarden Reais (ca. 5 Milliarden Euro/Wechselkurs vom 15.01.2018) betragen, sollten die Preise der Incra-Tabelle für die Landkäufe angesetzt werden.

Allgemeines Gesetz zur Umweltlizenzvergabe in der Hand der ruralistas

Der seit 13 Jahren in Diskussion befindliche Entwurf des sogenannten „Allgemeinen Gesetzes zur Vergabe von Umweltlizenzen“ (Gesetz 3.729/2004) wird sowohl von der brasilianischen Bundesstaatsanwaltschaft als auch vom brasilianischen Bundesumweltamt Ibama (Instituto Brasileiro do Meio Ambiente e dos Recursos Naturais Renováveis) sowie von Umweltschützer/innen stark kritisiert. Über den Gesetzentwurf in seiner jetzigen, vom Abgeordneten Mauro Pereira (PMDB) eingebrachten Version, soll – wenn es nach ihm geht, mit Dringlichkeitsstatus – allein das Plenum abstimmen, ohne dass es vorher die Finanz- und Steuerkommission und die Verfassungs- und Justizkommission durchläuft; ein Vorgehen, das die Parlamentarische Umweltfront zu verhindern sucht.

Die Besorgnis kommt nicht von ungefähr. Dieses Gesetz würde die Vergabe von Umweltlizenzen für Großvorhaben erleichtern und Agrarunternehmen grundsätzlich von der Lizenzpflicht befreien. Ein weiteres Problem: Die Umweltbehörden wären damit gezwungen, innerhalb einer bestimmten Frist über Unternehmensanträge zu entscheiden. Eine Vorlizenz, zum Beispiel, müsste in maximal zehn Monaten erteilt oder abgelehnt werden. Und das auch nur, wenn für das Projekt eine Vorstudie über mögliche Umweltschäden vorgeschrieben ist.

Nach Auffassung der brasilianischen Bundesstaatsanwaltschaft (Ministério Público Federal) enthält der Text „Bestimmungen, die deutlich verfassungswidrig sind und einen nicht hinnehmbaren und unzulässigen sozioökologischen Rückschritt bedeuten würden“, so heißt es wörtlich. Die Eilabstimmung im Plenum hätte nur eine einzige Stoßrichtung – der nationalen Umweltpolitik und der Bevölkerung zu schaden, in einem Augenblick, in dem die öffentliche Aufmerksamkeit wegen der Korruptionsskandale der Regierung abgelenkt ist.

Wie das Dokument des MPF feststellt, enthält die Gesetzesänderung verschiedene Problemkreise, unter anderem:

  • die Festlegung einer zu kurzen Frist für die Bewilligung von Lizenzen, die dann ohne Begutachtung ausgegeben würden, oder gar trotz eines gegenteiligen Gutachtens einer anderen zuständigen Institution, wie z.B. dem Institut für Nationales Kulturerbe und Denkmalsschutz (Iphan), der Nationalen Stiftung der Indigenen (FUNAI) oder dem Institut für den Erhalt der Biodiversität Chico Mendes (ICMBio),
  • eine überzogene Autonomie gegenüber den Bundesbehörden und das Fehlen von einheitlichen nationalen Parametern und Kriterien zur Entscheidungsfindung,
  • die Aufweichung der Bedingungen, die im Falle der Nichterfüllung von Auflagen das Aussetzen des Lizensierungsprozesses zur Folge haben würden, sowie
  • die Schaffung eines vereinfachten elektronischen Verfahrens (Licença por Adesão e Compromisso - LAC), das Unternehmen auf Grundlage einer einfachen Erklärung von der Vor-Lizensierung bei umweltschädlichen Aktivitäten befreit.

Sogar das brasilianische Bundesumweltamt Ibama, das die Annahme eines neuen Gesetzes (an und für sich) befürwortet, bestätigt, dass es in der vorliegenden Fassung des Gesetzestextes „einen großen Rückschlag für den Umweltschutz bedeuten würde, da der Inhalt auf die Judizialisierung von Lizensierungsverfahren und des angenommenen Gesetzes selbst abzielt.“ Dann werden die zahlreichen Probleme eines nach dem anderen aufgeführt. Die planvolle Offensive der ruralistas zeigt sich also einerseits in den Bestrebungen, die Lizensierung verfassungswidrig und mit einem sehr viel vageren Regelwerk durchzuziehen, und andererseits darin, die Umweltinstitutionen durch fehlende technische Ausrüstung und bedeutende Budgetkürzungen systematisch auszuhungern.

Bergbauindustrie: Öffnung birgt Gefahren

Im Juli 2017 kündigte Temer das „Programm für die Neubelebung der Bergbauindustrie“ an. Zu den geplanten Veränderungen gehört die Einrichtung der Nationalen Bergbauagentur (Agência Nacional de Mineração), die die derzeitige Nationale Behörde für Bergbau DNPM (Departamento Nacional de Produção Mineral) ablösen soll, eine Erhöhung der Förderabgaben – die aber auch dann noch niedriger als der Weltdurchschnittswert wären – und die Erwartung, so den Beitrag des Bergbaus am brasilianischen BIP von 4 Prozent auf 6 Prozent zu steigern.

Schon der Nationale Bergbauplan, der im Jahre 2011 mit Zielen bis 2030 verkündet wurde, sah die Produktion von einer Milliarde Tonnen Eisenerz und 200 Tonnen Gold im Jahre 2030 vor.

Vor zwei Jahren ereignete sich das größte Umweltverbrechen in der brasilianischen Geschichte, bei dem es im November 2015 in der Stadt Mariana (Bundesstaat Minas Gerais) in einem Eisenerzbergwerk zu einem Dammbruch in zwei Absetzbecken kam. 19 Menschen starben und eine riesige Schlammlawine mit schädlichen Stoffen ergoss sich auf die angrenzenden Ortschaften und kontaminierte den Rio Doce, der sich in einen „toten Fluss“ verwandelte. Es wird noch Jahrzehnte dauern, bis sich die Umwelt von den immensen Schäden erholt. Der „Fall Mariana“ zeigt eindrücklich, dass ein politisches Vorgehen wie oben beschrieben fahrlässiges Handeln begünstigt und damit unvorhersehbare Auswirkungen im Ökosystem und im Leben von Millionen von Menschen verursachen kann. Schlimmer noch: Mariana heißt auch, dass bis zum heutigen Tage niemand zur Verantwortung gezogen und die Strafe nie wirklich bezahlt worden ist. Das Bergbauunternehmen Samarco (Vale/BHP) – das übrigens Dutzende von Wahlkampagnen finanziert hat – hat mehrfach Berufung eingelegt und zählt auf die Milde der Justiz. Man kann sich lebhaft vorstellen, wie dies Unternehmen geradezu zu Umweltsünden in Brasilien ermuntert.

Fünf Millionen Hektar im Blick

Eine in der Zeitschrift „Environmental Conservation“ von Wissenschaftler/innen der UFG (Bundesuniversität von Goiás), dem IPAM (Amazonas-Umweltforschungsinstitut) und dem ICMBio (Institut für den Erhalt der Biodiversität Chico Mendes) veröffentlichte Studie zeigt auf, dass im Zeitraum von nicht einmal acht Jahren fünf Millionen Hektar bisher geschützter Territorien in Brasilien direkte Auswirkungen des Bergbaus zu spüren bekämen, schon wenn nur drei der gerade diskutierten Gesetzesentwürfe vom Nationalkongress angenommen würden.

Die Wissenschaftler/innen analysierten hier die Auswirkungen, die die bereits gestellten 13.600 Anträge auf Ressourcenabbau in Gebieten haben würden, die sich in irgendeiner Weise mit geschützten Territorien überlappen. 2.400 dieser Abbauvorhaben sind in Gebieten geplant, wo zurzeit Bergbau noch verboten ist. Weitere 11.200 sind in Landschaftsschutzgebieten (Áreas de Proteção Ambiental – APA) vorgesehen, wo der Bergbau bereits gestattet ist, bzw. in Biosphärenreservaten (Áreas de Relevante Interesse Ecológico – ARIE). In die Analyse einbezogen wurden alle bei der Nationalen Behörde für Bergbau (DNPM) registrierten Vorgänge, die irgendeine bergbauliche Aktivität beinhalteten, angefangen von der Untersuchung potenzieller Lagerstätten auf Abbaueignung bis hin zur Beantragung auf Genehmigung entsprechender Produktionsanlagen.

Die eingebrachten Gesetzesanträge würden den Bergbau auf 100 Prozent der Schutzgebiete mit nachhaltiger Nutzung (1), auf 100 Prozent der indigenen Territorien (2) sowie auf 10 Prozent ganzheitlich geschützter Gebiete, wie etwa Nationalparks (3), möglich machen.

Einreicher der Gesetzesanträge:

  1. PL37/2011, Antrag des Abgeordneten Weliton Prado – PT (Arbeiterpartei), der inzwischen zu der 2016 gegründeten PMB (Partei der Brasilianischen Frau) gewechselt ist
  2. PL1610/1996, Antrag des Senators Romero Jucá – PMDB (Partei der Brasilianischen Demokratischen Bewegung)
  3. PL3682/2012, Antrag des Abgeordneten Vinícius Gurgel – PR (Partei der Republik)

Der verheerendste dieser drei Gesetzesentwürfe ist zweifelsohne der des Senators Romero Jucá. Der Antrag mit der Nummer PL 1.610 lag 16 Jahre auf Eis, obwohl der Senat ihn bereits befürwortet hatte. 2012 reichte Édio Lopes, Abgeordneter derselben Partei wie Jucá (PMDB), historisch den garimpeiros– Gold- und Diamantenschürfern – eng verbunden, den Antrag auf ein Ersatzgesetz für das oben genannte ein. Dieser neue Entwurf befindet sich nun in einer fortgeschrittenen Verhandlungsphase. Wenn er durchkommt, würde dies – nach einem 20-jährigen Streit um das Gesetz – den Sieg der Bergbauunternehmen über die Interessen der Indigenen bedeuten. Wie wissenschaftliche Erhebungen besagen, würden damit 114 Millionen Hektar Indigenen-Land an Bergbauunternehmen freigegeben, und das ohne jegliche Größen-Einschränkung künftiger Abbaugebiete.

Eine Sonderreportage der Agentur für investigativen und unabhängigen Journalismus Agência Pública zeigt auf, dass bereits für ein Drittel der indigenen Gebiete der Region Amazônia Legal Bergbauvorhaben bei der Nationalen Behörde für Bergbau (DNPM) registriert sind. Die Wunschliste ist lang: Sie reicht vom Ansuchen um die Ausbeutung von Gold- und Bleivorkommen bis hin zum Abbau von Zinn- und Kupfererzen. Jeder zehnte Antrag auf Bergbau betrifft ein indigenes Gebiet, die Hälfte dieser Fälle einer sich bisher ausschließenden Überlappung konzentriert sich auf den Bundesstaat Pará. Und das, obwohl die FUNAI den Prozess zur Anerkennung des Schutzstatus dieser indigenen Gebiete bereits angestoßen hat. All dies beschädigt auch das Ansehen Brasiliens hinsichtlich bereits unterzeichneter internationaler Vereinbarungen, worin das Land sich verpflichtet hat, auf 17 Prozent seines Territoriums ein effektives Netz an Schutzgebieten aufzubauen und das Aussterberisiko bedrohter Tier- und Pflanzenarten bis 2020 zu verringern.

FUNAI: Totalabbau von Personal und Mitteln begünstigt Massaker an Indigenen

Im März 2017 unterzeichnete Temer ein Dekret über 87 Stellenstreichungen bei der FUNAI, die vor allem die Allgemeine Koordinierungsstelle für Lizensierung (CGLIC) und die Lokalen Technischen Koordinierungsstellen (CTLs) betrafen. Dies sind jedoch Abteilungen von strategischer Bedeutung, die geplante Großprojekte auf indigenen Gebieten bewerten, die Lizensierung und die Ausgleichsleistungen überwachen und den Behörden Anfragen übermitteln. Heute verfügt das CGLIC über zehn technische Mitarbeiter/innen, um ca. dreitausend Lizensierungsvorgänge zu bearbeiten: 300 pro Mitarbeiter/in. Damit wird die Arbeit der Koordinierungsstelle für Lizensierung (CGLIC) in der Praxis zu einer Farce.

Bis September 2017 konnte die Indigenen-Schutzbehörde FUNAI gerade einmal 22 Prozent des Jahresbudgets für die Demarkation und Bewachung von Indigenen-Ländereien und den Schutz von Isolierten Völkern auslasten. All diese Faktoren waren ein maßgeblicher Beitrag zu dem international bekannt gewordenen Massaker an isoliert lebenden Indigenen durch illegale garimpeiros (Gold- und Diamantensucher) im Innern des Indigenen-Gebietes Vale do Javari (Amazonas).

Das Institut für Sozioökonomische Studien (Inesc) macht darauf aufmerksam, dass die FUNAI zurzeit mit nur 36 Prozent ihrer Kapazitäten arbeitet. Sie verfügte 2017 über etwa 2.100 Angestellte gegenüber 3.000 im Jahre 2012. Vom Planungsministerium bewilligt sind hingegen fast 6.000 Stellen. Auch die Finanzmittel sind in Mitleidenschaft gezogen: 2016 erhielt die FUNAI 0,018 Prozent des Staatshaushaltes; circa 90 Prozent dieses Geldes sind jedoch Festkosten der Institution wie Gehälter, Infrastruktur- und Mietkosten. Überdies ist der bewilligte Betrag für das laufende Jahr praktisch derselbe wie 2007 – und das bei einer beträchtlichen Inflationsrate.

Sklavenarbeit: Bundesstaatsanwaltschaft für Arbeit prozessiert erstmalig gegen Bundesregierung

Offenbar reichte es der Temer-Regierung nicht, die Kontrollmechanismen zur Bekämpfung von Sklavenarbeit auszuhebeln, indem sie zu diesem Zweck so starke Mittelkürzungen beim Arbeitsministerium vornahm, dass die Bundesstaatsanwaltschaft für Arbeit (Ministério Público do Trabalho, MPT) gezwungen war, mit einer öffentlichen Zivilklage gegen die Bundesregierung anzutreten – etwas, das so in der Geschichte Brasiliens noch nie vorgekommen ist. Ihre scheinheiligen Absichten wurden noch deutlicher mit der Veröffentlichung der Richtlinie Nr. 1.129, in der der Begriff „Sklavenarbeit“ bzw. „sklavereiähnliche Arbeitsverhältnisse“ und der Umgang damit neu geregelt wurden.

Auch die Entscheidung über die öffentliche Bekanntmachung der Namen, die auf der Schwarzen Liste überführter Unternehmen erscheinen, liegt nunmehr ausschließlich in den Händen der Regierung selbst. Diese Neuregelung, die erlassen wurde, um die bancada ruralista gnädig zu stimmen und so den Fortgang der zweiten Anklage durch Abgeordnete gegen Temer zu verhindern, hat national und international Protest hervorgerufen. Obwohl die Richterin Rosa Weber des Obersten Gerichtshofes (STF), die Richtlinie durch vorläufigen Beschluss aussetzte und auch die Generalstaatsanwaltschaft (PGR) Kritik äußerte, scheint Temer nicht aufzuhören, seine „Schulden“ bei den ruralistas zu bezahlen – und warum nicht auf Kosten der modernen brasilianischen Sklaven?

Diese Fakten stellen alle historischen Fortschritte im Kampf gegen die Sklavenarbeit in Frage, die Brasilien in den letzten 20 Jahren erreicht hat. Die Spezialeinheit zur vor-Ort-Kontrolle (GEFM) des Ministeriums für Arbeit (MTE - Ministério do Trabalho e Emprego) verfügt heute gerade einmal über vier Teams – vor ca. zwölf Jahren waren es immerhin zehn. Und die Einheit muss in ihrer täglichen Arbeit immer wieder eine qualvolle Auswahl treffen: Von zehn Anzeigen, die sie erhält, kann sie nur eine einzige verfolgen. Im August 2017 musste die Spezialeinheit zum ersten Mal in der 22-jährigen Geschichte ihres Bestehens die Arbeit einstellen: Ihr Budget war aufgebraucht.

Da die Arbeitsgesetzgebung, die alle Werktätigen des Landes betrifft, auch immer mehr der Prekarisierung unterworfen ist, sieht es in diesem Zusammenhang ebenfalls ziemlich düster aus: Denn es stellte sich bei Kontrolle so dar, als hätten neun von zehn der aus Sklavenarbeit Befreiten „ordnungsgemäße“ Leiharbeitsverträge.

Das Jahr 2017 ist das Jahr mit den wenigsten aus Sklavenarbeit Befreiten in den letzten zwanzig Jahren. Bis Juli 2017 konnten nur 110 Einsätze zur Befreiung von Menschen aus sklavereiähnlichen Verhältnissen durchgeführt werden. 2016 waren es insgesamt noch 680, und das war schon wenig genug im Vergleich zu den Vorjahren. In verschiedenen Regionen des Landes können die Kontrollen im ländlichen Raum nicht mehr durchgeführt werden. Es ist nicht einmal mehr Geld da, um Benzin für die Einsatzfahrzeuge zu kaufen, musste die Bundesstaatsanwaltschaft für Arbeit eingestehen. Heute kann Brasilien nur noch weniger als ein Drittel der Menschen befreien, die anerkanntermaßen in sklavereiähnlichen Verhältnissen leben und arbeiten. Laut Schätzung der NGO WalkFree gab es 2016 in Brasilien 161.000 Menschen in solchen Verhältnissen. Brasilien galt jahrelang als Vorbild im Kampf gegen die moderne Sklaverei. Nun ist es innerhalb der 198 Länder, in denen heute noch sklavereiähnliche Verhältnisse existieren, auf einen traurigen 33. Platz vorgerückt.

Übersetzung aus dem Portugiesischen: Petra Tapia

Der Artikel erschien zuerst auf der Webseite unseres Brasilien-Büros.

Fusion von Bayer und Monsanto: Big Player der digitalen Landwirtschaft

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Landwirtschaftliche Maschinen in einer Monokultur

Für Bayer steht bei der Fusion mit Monsanto viel auf dem Spiel. Das wusste auch Landwirtschaftsminister Schmidt. Er hat in Brüssel für die Verlängerung von Glyphosat gestimmt, um die Umsätze von Bayer in den ersten Jahren nach der teuren Fusion zu stützen und damit Bayer als deutsches „Vorzeigeunternehmen“ zu stärken.

Digitales Geschäft wird von Bayer nicht zum Verkauf angeboten

Dies hilft Bayer aber nur dann, wenn die EU-Kommission die Fusion am Ende auch genehmigt. Hier scheint sich Bayer seiner Sache nicht sicher zu sein. Warum sonst sollte der Konzern ein paar Wochen vor der finalen Kommissionsentscheidung nochmal ein Angebot machen? Das Angebot umfasst Gemüsesaatgut und eine Exklusivlizenz für BASF für die Nutzung von Bayer-Monsantos digitaler Plattform. Es verwundert nicht, dass Bayer nicht bereit ist, das digitale Geschäft von Monsanto und/oder Bayer zum Verkauf anzubieten. Schon im September 2017 erklärte Bayer nicht in der Lage zu sein, Teile des digitalen Geschäfts zu verkaufen. Dieses ist aus Bayers Perspektive das absolute Sahnestück und der wesentliche Grund für die Fusion. Die Übernahme von Monsanto ist für Bayer eine Investition in die Zukunft. Denn diese, da sind sich die Expert/innen einig, wird der digitalen Landwirtschaft gehören.

Konzerne setzen ganz auf die Digitalisierung in der Landwirtschaft

Wie schnell und wie umfassend die Digitalisierung Einzug in der Landwirtschaft halten wird, ist schwer zu prognostizieren, zumal die Situation von Land zu Land unterschiedlich aussehen wird. Aber dass sie die Landwirtschaft von Grund auf ändern wird, davon gehen Expert/innen heutzutage aus. 2013 ist das Wendejahr, ab dem die Investitionen in Ag Tech enorm angestiegen sind. Prognosen zufolge wächst der Markt für digitale Landwirtschaft jährlich im Durchschnitt um 12 Prozent. Allein Bayer hat in den letzten 18 Monaten 600-700 Mio. US-Dollar in Life Science Unternehmen investiert. Die Zahl der installierten IT-Vorrichtungen in der Landwirtschaft soll von 30 Millionen im Jahr 2015 auf 75 Mio. im Jahr 2020 steigen, d.h. mit einem jährlichen Wachstum von 20 Prozent.

Datenanalyse und Datenwissenschaft sind Schlüsselfaktoren für „Big Data“

Es wird erwartet, dass ein landwirtschaftlicher Durchschnittsbetrieb im Jahr 2050 durchschnittlich 4,1 Mio. Datenpunkte generieren wird (2014: 190.000). Nach Angaben von IBM (2012) sind 90 Prozent der Daten weltweit allein in den letzten zwei Jahren generiert worden. Die zu verarbeitende Datenmenge steigt also exponentiell an. Aber erst die Zusammenführung der durch die Digitalisierung gewonnenen Daten ist kennzeichnend für „Big Data“ und „Smart Farming“.

Die Datenanalyse bzw. die Datenwissenschaft sind Schlüsselfaktoren, die für die Anwendung von Big Data erforderlich sind. Nur wer hier die Nase vorn hat, wird auch das Rennen im digitalen Zeitalter machen. Am Ende steht und fällt das Geschäftsmodell mit dem Erfolg des Algorithmus bzw. der daraus resultierenden Inputvorgaben. Für eine erfolgreiche Funktionsweise sind hunderte von Feldversuchen notwendig.

Monsanto ist der größte Player bei digitaler Landwirtschaft

In den letzten Jahren hat Monsanto mehrere digitale Agrarunternehmen aufgekauft. Dreh- und Angelpunkt der Digitalisierungsstrategie war der Aufkauf der „Climate Corporation“ im Jahr 2013. Diese wiederum erwarb im Jahr 2014 die Bodenanalyse-Sparte von „Solum“ und „640Labs“ mit seinem GPS-gestützten Pflanzen- und Maschineninformationssystem für Landwirte. Im Jahr 2016 folgte der Kauf von „VitalFields“, einem europäischen Softwareunternehmen, das sein Farmmanagementsystem in sieben Ländern anbietet: Estland, Deutschland, Österreich, Polen, Rumänien, Schweiz und Ukraine. Mit Hydrobio kaufte die Climate Corporation im Jahr 2017 ein Datenanalyseunternehmen auf, das auf Bewässerung spezialisiert ist.

Durch die Übernahmen avancierte Monsanto vom „First Mover“ zum größten globalen Player bei der digitalen Landwirtschaft. Die digitale Plattform soll bis 2020 hunderte Millionen US-Dollar einbringen. Viele weitere Übernahmen sind zu erwarten, zumal das Kartellrecht der Entwicklung keinen Riegel vorschiebt.

Digitalisierung zu wenig im Fusionsverfahren berücksichtigt

Traditionellerweise werden Fusionen wie die von Bayer und Monsanto unverständlicherweise unter Auflagen genehmigt. Das heißt, die Übernahme kann stattfinden, wenn einige Geschäftsteile in überlappenden Märkten verkauft werden. Bei Bayer-Monsanto betrifft dies Soja, Raps, Gemüsesaatgut etc. Aber diese Detailanalyse von einzelnen Marktsegmenten ignoriert, dass die Digitalisierung die Landwirtschaft von Grund auf und sehr schnell verändern wird. Wer hier die Nase vorn hat, wird sehr wahrscheinlich den Löwenanteil der Kunden abgreifen, erklärt der Wettbewerbsexperte Daniel Oliver aus den USA.

Weder Bayer noch Monsanto allein haben dafür genug Saatgutsorten oder Pestizidprodukte. Erst durch die Fusion sind sie in der Lage, Profit aus der Digitalisierung zu schlagen, die anderen weit abgeschlagen hinter sich zu lassen und mit einer digitalen Plattform kleinere Konkurrenten vom Markt fernzuhalten. Die Kommission muss deswegen im Fusionsverfahren der Digitalisierung ein großes Gewicht beimessen und die digitale Marktmacht von Bayer und Monsanto umfassend untersuchen.

Marktmacht durch Integration von Saatgut und Pestizide in digitaler Plattform

Bayer sieht keine Überschneidung bei den digitalen Geschäftsfeldern. Schließlich ginge es hier bei Bayer um die Schädlingskontrolle während der Fokus von Monsanto auf der Ertragssteigerung liege. Ein Blick in Bayers Investorenhandout (6/2016) zeigt, dass diese Aussage nur die halbe Wahrheit ist. Bei der Fusion geht es explizit darum, ihre Saatgutsorten und Pestizide in Zukunft zu kombinieren und diese Koppelprodukte (sog. „integrierte Lösungen“) mit ihrer digitalen Plattform zu vermarkten.

Durch die Fusion entsteht die „führende digitale Plattform“ kombiniert mit einer „Best in Class“-Datenanalyse. Die Integration von Saatgut und Pestiziden in einer digitalen Plattform schafft starke Anreize für potenzielle Landwirte, von anfänglichen Lockangeboten bzw. vom Risiko einer ruinösen Preissetzung ganz zu schweigen. Kleinere Konkurrenten, die Innovation und Wahlmöglichkeiten für Landwirte bringen würden, hätten keine Chance auf den Markt zu kommen. Zudem könnte die Fusion den Zugang zu wertvollen Farmdaten verschließen und Bayer-Monsanto dies als Hebel für die Ausweitung seiner Marktmacht nutzen.

Welche Aspekte im Fusionsverfahren zu berücksichtigen sind

Da die digitale Landwirtschaft noch ganz am Anfang steht, auch kartellrechtlich gesehen, stellt sich die Frage wie dieser Markt analysiert werden kann. Eine Meta-Studie unterscheidet Farmprozesse, Farmmanagement wie Sensoring und die Datenkette von Datenerhebung über Datenanalyse zu Datenmarketing.

Bei der kartellrechtlichen Prüfung im Bereich digitaler Landwirtschaft müssten darüber hinaus folgende Punkte berücksichtigt werden:

  • Geringere Auswahlmöglichkeiten für Bauern: Das FieldScript-Programm von Monsanto beschränkt die Auswahl der Landwirt/innen auf Hybridsaatgut. Die Empfehlung des Programms ist nur mit dem Kauf des Saatguts zu erhalten, was kartellrechtlich höchst bedenklich ist. Monsantos Empfehlungs-Algorithmus basiert ausschließlich auf agronomischem Wissen über ihre eigenen Sorten. Das heißt, die Digitalisierung verengt noch mehr die Anzahl der Saatgutlinien und schränkt die freie Wahl der digitalen Plattform ein.
  • „One-Stop“ digitale Plattform: Die Integration von Saatgut und Pestizide in einer digitalen Plattform muss kartellrechtlich gesondert betrachtet werden. Der Markt für „integrierte Lösungen“ ist ein neuer Markt, der in naher Zukunft etabliert wird und deswegen untersucht werden muss (siehe oben).
  • „First Mover“-Vorteil“: Dies schließt die digitalen Plattformen, Datenanalyse, Algorithmus-Entwicklung und Feldversuche mit ein. Syngenta hat beispielsweise für die Entwicklung eines Fungizids allein 717 Feldversuche durchgeführt.
  • Hohe Marktzugangsbarrieren für Start-Ups: Ihre geringe Wettbewerbsfähigkeit kann neue Firmen davon abhalten, in die digitale Landwirtschaft einzusteigen. Ebenso der „First Mover“-Vorteil von Bayer-Monsanto. Die Entwicklungskosten sind sehr hoch, sie betragen 286 Mio. US-Dollar für ein neues Pestizid und 136 Mio. US-Dollar für eine neue GMO-Saatgutsorte (genetically modified organism).
  • Geistige Eigentumsrechte und Digitalisierung: Monsantos Dienstleistungsvertrag beschreibt, dass FieldScripts® und die relevanten Algorithmen und Dokumentation das geistige Eigentum und geschützte Information von Monsanto sind. Die Exklusivlizenz für BASF bei der Nutzung von Bayers digitaler Plattform erhöht die oligopolistische Marktmacht und stellt eine weitere Marktzugangsbarriere für kleinere Konkurrenten dar (siehe Lizenzabkommen).
  • Möglicher Missbrauch von Datenmacht: Agrartechnologieanbieter sammeln Daten über angepflanzte Flächen. Konzerne wie Monsanto, die auch Ertragsprojektionen für diese Flächen basierend auf agronomischen und klimatischen Bedingungen und Voraussagen machen, können dies zu ihrem Vorteil ausnutzen, in dem sie an Warenterminmärkten spekulative Wetten abschließen. Dies war bislang die Domäne von Getreidehändlern wie Cargill, ADM und Glencore.

Liebe Frau Vestager, sagen Sie einfach „NEIN“!

Dabei gilt es, das „Big Picture“ nicht aus dem Blick zu verlieren, nämlich die Marktdominanz bei Saatgut, bei Pestiziden und bei der digitalen Plattform kombiniert mit „Best in Class“-Datenanalyse. Bereits jetzt ist offensichtlich, dass über die Auflagen bzw. Verkäufe einzelner Geschäftsteile nicht, wie eigentlich beabsichtigt, Wettbewerb hergestellt werden kann. Denn diese Geschäftsteile werden ja an andere Großkonzerne, in erster Linie an die BASF (Nr.4 weltweit) verkauft. Die Folgen wären verheerend. Man kann dem „American Antitrust Institute“ deswegen nur zustimmen, wenn sie zu dem Schluss kommen: Einige Deals sind schlicht zu groß. Die Fusion von Bayer und Monsanto gehört dazu. Liebe Frau Vestager, sagen Sie als EU-Wettbewerbskommissarin einfach „NEIN“!

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Der Artikel wurde zuerst bei Oxfam Deutschland veröffentlicht.

Anthropozän: Mensch macht Epoche

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Nahaufnahme von Gesteinsschichten

Wir leben über unsere Verhältnisse. Vier von neun ökologischen Belastungsgrenzen unseres Planeten sind bereits überschritten: Biodiversität ist unwiederbringlich verloren gegangen, durch die Landnutzung zerstören wir großflächig Ökosysteme. Das Klima und der Stickstoffkreislauf haben sich für immer verändert.

Bei der Versauerung der Ozeane stehen wir kurz davor, die natürliche Grenze zu überschreiten. Hier könnten irreversible Schäden entstehen, die die Bewohnbarkeit der Erde maßgeblich verändern, wenn nicht sogar einschränken. Wir rotten Tiere und Pflanzenarten aus, überfischen und vermüllen die Meere und beuten natürliche Rohstoffreserven aus.

Wir holzen tropische Wälder ab, legen Monokulturen an und überdüngen Böden und Gewässer. Seit der industriellen Revolution haben wir Menschen technologische und wirtschaftliche Prozesse in Gang gesetzt, deren Konsequenzen für den Planeten enorm sind. Die Menschheit ist zu einer „Naturgewalt“ geworden, sagen daher manche und rufen dabei gleich ein neues geologisches Zeitalter aus: das Anthropozän. „Anthropos“ ist altgriechisch für Mensch, „Zän“ bedeutet Zeit – das Zeitalter des Menschen also.

Die Spuren des Menschen in Gestein und Sediment

Der Begriff wurde schon im Jahr 2000 vom Nobelpreisträger der Chemie Paul Crutzen geprägt. Begründet hat Crutzen dies damit, dass das Handeln der Menschen seit dem industriellen Zeitalter so massive Auswirkungen auf die Atmosphäre unseres Planeten hat, dass es eine neue geologische Epoche ausmacht.

Kein Winkel der Erde bleibt von den menschlichen Eingriffen verschont. Als wichtigste Veränderung sieht er die erhöhte Konzentration von Treibhausgasen in der Atmosphäre, aber auch das Ozonloch, die Nutzung von bis zu 50 Prozent der globalen Landoberfläche durch die Landwirtschaft, die Ausbeutung der Meere durch die Fischerei und andere Phänomene.

Wissenschaftler/innen der Londoner Geologischen Gesellschaft griffen Crutzens Vorschlag 2008 auf und arbeiteten ihn weiter aus. Sie gehen davon aus, dass sich unser bisheriger Abschnitt der Erdgeschichte, das Holozän, durch den Klimawandel dem Ende zuneigt. Auch menschengemachte landwirtschaftliche Veränderungen, die Übersäuerung der Ozeane und die fortlaufende Vernichtung von Biotopen und Biodiversität spielen für sie eine Rolle.

Geologische Epochen lassen sich im Gestein und Sediment nachweisen. Spuren des Menschen und der industrialisierten Gesellschaften lassen sich heute überall finden und werden auch in Tausenden von Jahren Zeugnis unseres Wirkens sein: Spuren der mannigfachen Atomtests, Plastik, Beton, Aluminium und Kohlenstoffverbindungen aus der Verbrennung fossiler Energieträger zum Beispiel.

Von der Sensibilisierung zur Manipulation

Anerkannt ist das Anthropozän als neues Zeitalter noch nicht. Geolog/innen streiten darüber, wann es begonnen hat und ob es ihrer Wissenschaft überhaupt einen Mehrwert bringen würde. Trotzdem haben der Begriff und das Konzept vom Menschen als epochaler geologischer Faktor Einzug in viele gesellschaftliche Debatten gehalten.

Kein Wunder, das Anthropozän erscheint attraktiv: Es sensibilisiert dafür, dass der Mensch eindeutig der Urheber der Umweltkrisen ist. Es erkennt an, dass unsere Lebensweise und Art zu wirtschaften verantwortlich dafür ist, dass unser Planet zugrunde zu gehen droht. Wenn dies nun zum Ausgangspunkt dafür würde, dass wir endlich eine radikale Trendwende einleiteten, und eine radikale ökologische und soziale Transformation unserer Produktions- und Konsummuster stattfände, wäre das Anthropozän sehr sinnstiftend.

Leider passiert aber genau das Gegenteil: Die Erkenntnis, dass der Mensch den Planeten nachhaltig prägt, wird ins Positive gekehrt und als Gestaltungsmacht dargestellt. Wenn wir die Erde nachhaltig beeinflussen, können wir diese Macht auch zu unseren Gunsten nutzen. Also mehr statt weniger Einwirken – getreu dem Motto, dass der Anthropos es mit seiner Gestaltungskraft schon wieder richten wird. 

Paul Crutzen selbst steht für diese Sichtweise. Er forderte im selben Atemzug, mit dem er das Anthropozän ausrief, dass wir uns Technologien der Klimamanipulation zuwenden sollten, um die zukünftige Bewohnbarkeit der Erde zu gewährleisten.  Wir sollen großmaßstäbliche Manipulationen an globalen Ökosystemen oder dem Klima vornehmen, um es zu beeinflussen.

Heute werden solche Technologien als Geoengineering bezeichnet. Am weitesten auf dem Vormarsch sind Vorschläge, Kohlendioxid (CO2) aus der Atmosphäre zu saugen und unterirdisch zu speichern, Bioenergy with Carbon Capture and Storage (BECCS), um den Treibhauseffekt aufzuhalten.

Mit dieser Technologie soll die natürliche Fähigkeit von schnell wachsenden Pflanzen, CO2 zu speichern, auf technische Weise genutzt werden. Biomasse wird durch Verbrennung in Bioenergie umgewandelt. Das dabei freiwerdende Klimagas soll chemisch in Schornsteinen gelöst werden, um dann später unterirdisch gespeichert zu werden.

Geoengineering bringt gravierende Risiken und Nebenwirkungen mit sich

Die Technologie ist noch nicht ausgereift und ihr Einsatz rechnet sich überhaupt nicht. Damit BECCS eine klimarelevante Wirkung entfalten könnte, bräuchte man eine zusätzliche Fläche von 430 bis 580 Millionen Hektar Land, um Pflanzen anzubauen – das entspricht etwa der Fläche der Europäischen Union. Eine Umwandlung von Landfläche in einem solchen Maßstab würde nicht nur bereits existierende Landkonflikte auf der ganzen Welt weiter anheizen.

Es würde auch bedeuten, dass noch mehr lebensnotwendige Ökosysteme wie Primärwälder, Moore und natürliches Grasland zerstört würden. Hinzu kämen die nachteiligen ökologischen Folgen des immensen Wasser- und Düngerbedarfs der Technologie. Anstatt also die multiplen Umweltkrisen in ihrer Gesamtheit zu sehen, verkürzt BECCS das Problem auf ein CO2-Problem und der Erderwärmung und verschärft andere Probleme nur noch zusätzlich.

Andere Vorschläge der Geoengineerer sind, Algen im Meer im großen Stil zu düngen, um mehr Biomasse wachsen zu lassen, die CO2 aus der Luft speichern kann. Oder mit Partikeln die Effekte eines Vulkanausbruchs in der Atmosphäre zu simulieren oder Wolkenkonstellationen künstlich aufzuhellen, um das Sonnenlicht zu reflektieren und so den Klimawandel aufzuhalten.

Doch diese Technologien bringen gravierende Risiken und Nebenwirkungen mit sich: Sie verschlimmern bestehende Umweltkrisen und schaffen neue Zielkonflikte, auch sozialer Natur. Globale Land- und Wasserkonflikte würden verschärft, die Phosphor- und Stickstoffkreisläufe durch Dünger weiter belastet, mehr Biodiversität unwiederbringlich zerstört, die Versauerung der Meere vorangetrieben. Eine nachhaltige Antwort auf den Klimawandel sieht anders aus.

Außerdem kämen neue Zielkonflikte und Risiken hinzu: Ob die Geoengineering-Technologien überhaupt funktionieren würden und welche Effekte sie auf regionale Wetterfolgen haben werden, können wir erst wissen, wenn wir sie global nutzen – und vielleicht schon irreparable Schäden am globalen Ökosystem verursacht haben. Das ist ein gewaltiges Risiko, das wir nicht eingehen sollten.

Demokratie, Einsicht und Verantwortung

Wir brauchen dringend eine grundsätzliche und breite gesellschaftliche Diskussion: Wie sollen die Antworten auf unsere Umweltkrisen aussehen? Welche Risiken können wir eingehen? Welche Zielkonflikte nehmen wir in Kauf? Wie müssen wir wirtschaften, um der Zerstörung der Umwelt ein Ende zu setzen? Welche Lösung könnte die beste sein, welche Lösungen lehnen wir grundlegend ab? Doch solche Diskussionen drohen derzeit zu kurz zu kommen, auch im Kontext anderer Technologien wie der Gentechnik in der Landwirtschaft oder synthetischen Biologie.

Das Reden vom Anthropozän befördert meines Erachtens diese Entwicklung. Denn das Anthropozän ist mehr als ein Begriff und mehr als eine mögliche geologische Epoche. Er erhärtet vor allem ein altbekanntes Weltbild: der Mensch als Maßstab aller Dinge, der sich über die Natur erhebt, sie gestaltet und beherrscht.

Es ver-naturwissenschaftlicht Phänomene, die eigentlich politischer, ökonomischer, kultureller und gesellschaftlicher Natur sind. Wie der Mensch auf die Natur einwirkt, ist nicht eine Selbstverständlichkeit, sondern durch das gesellschaftliche Mensch-Natur-Verhältnis bestimmt, also das Ergebnis von Produktions- und Konsummustern, von Machtverhältnissen, die wir selbst wählen und damit auch verändern könnten. Und dass es auch anders geht, zeigen andere Gesellschaften und Zeitalter.

Das Anthropozän als Begriff verdeckt beziehungsweise nivelliert unsere Verantwortung für die Zerstörung der Natur. Es sind eben nicht alle Menschen, die den Planeten ruinieren, sondern globale ökonomische Eliten und globale Mittelklassen, die über die Verhältnisse und auf Kosten anderer leben, emittieren, konsumieren, verbrauchen und vermüllen. Die gesamte Menschheit über Zeit und Raum hinweg in Sippenhaft zu nehmen, verhindert die Debatte um ökologische, soziale und globale Gerechtigkeit, statt sie zu befördern.

Entpolitisierung der Debatte über Ursachen und Lösungen der Umweltkrisen

Und gleichzeitig stärkt die Rede vom Anthropozän den Trend, dass ausschließlich technologische und damit sehr einseitige Lösungen von einzelnen Forschungsanstalten und Wissenschaftler/innen vorangetrieben werden. Fragen von Maßhalten, Weniger, von Freiheit, Verantwortung und Teilhabe bleiben außen vor. Der Diskurs um das Anthropozän entpolitisiert die Debatte über Ursachen und Lösungen der Umweltkrisen.

In der Tat müssen wir dringend drastische und radikale Antworten auf die Umweltkrisen finden. Wie diese aussehen sollen, müssen wir aber demokratisch diskutieren. Wer darf entscheiden, was taugt? Wie vermeiden und lösen wir Konflikte? Wollen wir uns auf Technologien als Antwort verlassen? Oder vielseitige Alternativen erkunden?

Denn wir kennen schon heute Maßnahmen, mit denen wir dem Klimawandel und den diversen Umweltkrisen bis hin zum Artensterben wirksam entgegentreten könnten. Ihre Hauptursachen sind unsere desaströsen Produktions- und Konsummuster, nicht, dass wir kein technologisches Allheilmittel für die Folgen haben.

Um die Erderwärmung aufzuhalten, müssen wir nicht darüber reden, wie wir CO2 speichern können, sondern wie wir weniger verursachen. Das geht, indem wir uns endgültig von fossiler Energie verabschieden, uns von industrieller Landwirtschaft und Tierhaltung abkehren und unsere Mobilität revolutionieren.

Wir müssen als Menschen wieder anerkennen, dass wir Teil des Ökosystems Erde sind und die natürlichen planetaren Grenzen respektieren müssen – und uns nicht der Illusion hingeben, dass wir uns über sie erheben können.

Dieser Artikel erschien in der Zeitschrift umwelt aktuell 2/2018.

Tomaten selbst zu ziehen ist gar nicht schwer!

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Tomaten auf der Fensterbank

Mit dem Aussäen können Sie ab Anfang März auf jeder sonnigen Fensterbank beginnen: Kleine Töpfe bis 2 cm unter dem Topfrand mit Erde füllen. In jedes Töpfchen kommt ein Samenkorn. Die Körner dürfen Sie nur ganz leicht mit Erde bedecken und Sie sollten sie immer schön feucht halten (Achten Sie beim Kauf der Blumenerde auf torffreie Erde zum Schutz der letzten Hochmoore).

Wo sollten die Töpfe stehen?
Tomaten sind wärmeliebend und lichthungrig. Die Pflanzen sollten möglichst hell und warm stehen. Am besten am Fenster, in der Sonne bei ca. 20 Grad Celsius.

Wie lange keimen Tomatenpflanzen?
Tomatenpflanzen keimen nach 3 bis 10 Tagen und können nach 3 bis 4 Wochen in größere Töpfe umziehen.

Was mache ich, wenn die Samen gekeimt sind?
Nach 3 bis 4 Wochen pflanzen Sie sie in einen größeren Pflanztopf. Dabei werden die Pflänzchen tiefer, mindes-tens bis zum Ansatz der Keimblätter in die Erde gesetzt. Vorher wird die Wurzelspitze ein wenig abgekniffen,
um eine gut verzweigte Wurzelbildung anzuregen.

Ab wann dürfen die Pflanzen nach draußen?
Nach dem letzten Frost (ab Mitte Mai) können Sie Ihre Tomatenpflanzen in einen großen Kübel oder direkt in die Gartenerde pflanzen. Setzen Sie die Pflanze erneut recht tief in die Erde und häufeln die Erde am Stämmchen an. Dadurch bildet sich ein sehr kräftiger Wurzelballen und die Pflanzen gedeihen gut. Geben Sie beim Auspflanzen etwas Kompost in das Pflanzloch, denn Tomaten mögen nährstoffreichen Boden. Auch 3 bis 4 Handvoll Brenn-nesseln oder andere frische Pflanzen können in das Pflanzloch gegeben werden. Das Grüngut verrottet und setzt dabei Wärme und Nährstoffe frei.

Wo und wie mag es meine Pflanze draußen gerne?
Tomaten sind sehr wärmebedürftig und brauchen einen sonnigen, luftigen Standort. Sie sollten im Freiland mit weitem Abstand zueinander stehen, 70 cm in der Reihe und 100 cm zwischen den Reihen. Tomaten wollen gern vor Regen geschützt sein, da Wasser von oben manchmal zu Pilz führt (Sunviva ist aber sehr robust). Im Kübel muss weiter gut darauf geachtet werden, den Wurzelballen feucht zu halten, aber die Nässe darf sich nicht im Kübel stauen. Die Tomaten brauchen eine Rankhilfe, an der man die Triebe hochbinden sollte.

Wie gedeiht meine Tomate am besten?
Wichtig ist das Ausgeizen. Dabei werden die jungen Seitentriebe der Pflanzen in den Blattachseln entfernt. Dadurch kann die Pflanze ihre Kraft auf die 1 bis 3 Haupttriebe verwenden. Gießen Sie die Pflanze regelmäßig (gerne morgens und abends) am Fuß der Pflanze, ohne die Blätter nass zu machen. Zum Düngen eignet sich Brennnesseljauche. Dazu werden ca. 1kg Brennnesselpflanzen zerkleinert und in einem Plastikeimer mit 10l Wasser übergossen. Die Jauche lässt man etwa 1 bis 2 Wochen gären, bis sie keine Bläschen mehr bildet. Sie wird im Verhältnis 1:20 mit Wasser verdünnt und als Flüssigdünger für die Tomaten verwendet. Pro Woche sollten Sie Ihre Sunviva-Pflanze mit ca. 1 Liter der verdünnten Lösung düngen.

Viel Erfolg! – Sie werden mit aromatischen, knallgelben freien Tomaten belohnt! 


Chile: "Secos"– die dunkle Seite des Avocadobooms

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Schriftzug "Secos" auf trockenem, steinig braunem Untergrund

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Avocados gelten als gesund und erfreuen sich wachsender Beliebtheit unter deutschen Verbraucher/innen. Nach Daten des Statistischen Bundesamtes hat sich die Importmenge in den letzten sechs Jahren nahezu verdoppelt. Mehr als 58.000 Tonnen der vitamin- und mineralstoffreichen Früchte wurden 2016 in die Bundesrepublik importiert.

 

Weniger bekannt ist die katastrophale Umwelt- und Menschenrechtsbilanz der beliebten Früchte. Nahezu 1000 Liter Wasser werden benötigt, um 2,5 Avocados zu produzieren. Ein Großteil des Exports konzentriert sich in den Händen von wenigen Großbetrieben, die Kleinbauern und –bäuerinnen aus dem Markt gedrängt haben. Besonders bedenklich ist die Situation in Ländern, in denen das Grundrecht auf Wasser (verfassungs-)rechtlich nur unzureichend verankert ist. Eines dieser Länder ist Chile. Der Andenstaat nimmt eine globale Sonderstellung bezüglich der Wasserpolitik ein. Hier hat der Staat freiwillig seine Schutzfunktion bei der Bereitstellung des Zugangs zu Wasser als Grundrecht aufgegeben. Die Verfassung und das aktuelle Wassergesetz (Código de Agua) wurden während der Militärherrschaft verfasst und ermöglichten es dem Staat Wasserrechte gratis an Dritte zu übertragen, die ihre Besitzrechte dann frei auf einem Wassermarkt nach den Kriterien von Angebot und Nachfrage handeln können. Dies hat zu einer wachsenden Konzentration der Wasserrechte in den Händen weniger Großunternehmer aus dem Agrar-, Bergwerks- und Forstwirtschaftssektor geführt. 80 Prozent des Trinkwassers Chiles wird heute in der Agrarindustrie verbraucht, insbesondere auch für den boomenden Avocado-Export.

Der Kurzfilm SECOS entstand in einer trilateralen Kooperation zwischen dem Regionalbüro Cono Sur der Heinrich-Böll-Stiftung mit Sitz in Santiago de Chile, unserer Partnerorganisation MODATIMA (Movimiento de Defensa del Agua, la Tierra y la Protección del Medio Ambiente: Bewegung zur Verteidigung des Wassers, des Landes und für den Umweltschutz) und der chilenischen Produktionsfirma POETASTROS. Ein Dutzend der bekanntesten Film- und Fernsehschauspieler/innen Chiles hatten sich bereit erklärt, auf ihre Gagen zu verzichten, um an diesem Kurzfilm mitzuwirken. SECOS thematisiert die katastrophalen Auswirkungen der Privatisierung des Grundrechts auf Wasser in der Avocado-Industrie in der Provinz Petorca. Das traditionelle Zentrum des Avocado-Anbaus wurde aufgrund der Übernutzung der Wasserressourcen durch die massive Ausdehnung von Avocado-Plantagen in eine Wüstenlandschaft verwandelt, die beiden Flüsse sind ausgetrocknet.

Mehr als 7000 Kleinbauern und Kleinbäuerinnen verloren ihre Existenzgrundlage und die Bevölkerung muss über Tankwagen mit Trinkwasser versorgt werden, mit hohen Kosten und fragwürdiger Wasserqualität. Nach einer Reportage des dänischen Journalistenteams Danwatch erhielten die Mitglieder unserer Partnerorganisation MODATIMA Morddrohungen und bedürfen seither Schutzmaßnahmen. Der Film richtet sich auch an deutsche und europäische Verbraucher/innen, Politiker/innen und Menschenrechtsorganisationen und die Lebensmittelketten, die die Avocados in Europa verkaufen und möchte einen Dialog zum Grundrecht auf Wasser und verantwortungsbewussten Konsum anstoßen.

Dokumentation mit deutschen Untertiteln

Dokumentation mit englischen Untertiteln


 


Mehr zum Thema:

Die Spur der Avocado— Eine Graphic Novel
über Wasserraub in Chile  Illustriert von Magdalena Kaszuba

Hier können Sie sich die gesamte Novel ansehen

 

Verwaltung trifft Beteiligung

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Verwaltung ist herausgefordert – Veränderungen sind gefragt. Der Weg dahin ist durchsetzt mit Verunsicherungen. Das war der Stoff
für unsere Fachtagung am 1./2. März 2018 in Berlin.

Energieatlas: Grafiken und Lizenzbestimmungen

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Alle Grafiken und Texte aus dem Energieatlas stehen unter einer Creative Commons Lizenz CC BY 4.0. D.h. Sie dürfen alle Inhalte:

  • Teilen— das Material in jedwedem Format oder Medium vervielfältigen und weiterverbreiten
  • Bearbeiten— das Material remixen, verändern und darauf aufbauen und zwar für beliebige Zwecke, sogar kommerziell.

Unter folgenden Bedingungen:

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  • Keine weiteren Einschränkungen— Sie dürfen keine zusätzlichen Klauseln oder technische Verfahren einsetzen, die anderen rechtlich irgendetwas untersagen, was die Lizenz erlaubt.

Eine richtige Referenzierung lautet z.B.:

Grafik: Bartz/Stockmar, CC BY 4.0

Bei Bearbeitungen:

Grafik: Bartz/Stockmar (M), CC BY 4.0

Hier finden Sie alle Grafiken zum Download (ZIP):

Bürgerenergie: Tropfen werden zum Strom

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Die beiden Länder in Europa, in denen seit 2009 die meisten Anlagen zur Erzeugung erneuerbarer Energien installiert wurden, sind Dänemark und Deutschland. Dies sind auch die Länder, in denen die Bürgerinnen und Bürger am meisten an der Energiewende beteiligt sind. In Deutschland gibt es viele verschiedene Eigentumsmodelle. Nur fünf Prozent der installierten Kapazität für erneuerbare Energie sind im Besitz großer, traditioneller Energieversorger. In Dänemark werden Onshore-Windkraftanlagen nur genehmigt, wenn mindestens 20 Prozent der Projektanteile an Bürgerinnen und Bürger gehen, die in der jeweiligen Region wohnen.

In vielen Ländern haben öffentliche Einwände und Proteste die Entwicklung erneuerbarer Energien gebremst oder blockiert. Es ist leicht zu verstehen, warum die Menschen wenig Interesse an Großtechnik vor Ort haben, wenn alle Gewinne abfließen und sie nicht mitbestimmen können, wo und wie das Projekt entwickelt wird. Das Sankt-Florian-Prinzip ist ein ernstes Problem, anfangs vor allem in Großbritannien, jetzt aber auch in Belgien, Frankreich und anderen Ländern. Aber wenn Bürgerinnen und Bürger solche Anlagen besitzen oder mitbesitzen, ändert sich das. Es ist daher unerlässlich, die Menschen und die Lage vor Ort in den Mittelpunkt der europaweiten Energiewende zu stellen.

Eine Beteiligung an lokalen Energiesystemen bringt die Energiewende näher

Das 2016 vorgeschlagene Clean Energy Package der EU soll die Ziele und Regeln für das europäische Energiesystem bis 2030 festlegen. Allerdings erscheinen große Teile davon fern und undurchsichtig. Viele Bürgerinnen und Bürger sehen zum Beispiel, dass die Energiesysteme im Besitz einiger großer Unternehmen liegen, die viel Geld verdienen und von einer Management-Elite und den Entscheidungsträger/innen in Brüssel bestimmt werden. Doch Bürgerenergieprojekte, die für die Netze produzieren, gibt es in allen Formen. Genossenschaften und Miteigentümer/innengruppen verbinden daher die lokale mit der europäischen Ebene. Wenn die Menschen ihr Energiesystem besitzen und es sich lohnt, wird auch ein so fern scheinendes Konzept wie die europäische Energiewende für sie konkret.

Es gibt viele Gründe, warum Anwohnerinnen und Anwohner in lokale Energieprojekte investieren. Solche Anlagen generieren achtmal mehr Einnahmen für die lokale und regionale Wirtschaft als die Anlagen der transnationalen Projektierer. Die finanziellen Ergebnisse bringen zudem immaterielle Vorteile mit sich, zum Beispiel den Stolz auf das gemeinsam Erreichte.

Weil es keine zentrale Datenbank gibt, ist es schwierig, die Zahl der an der Energiewende beteiligten Bürgerinnen und Bürger zu schätzen. In Europa gibt es Tausende kleine Projekte. Osteuropa liegt zurück, weil in den zentralisierten Strukturen die politischen Rahmenbedingungen für kleinteiligere Initiativen fehlen. Zudem bevorzugen die Regierungen dort noch immer die fossilen Brennstoffe und die Kernenergie. Diese Länder haben ein enormes Potenzial – mit dem richtigen politischen Rahmen können sich die Bürgerenergien auch nach Osten ausbreiten.

Bürgerenergie braucht die richtigen politischen Rahmenbedingungen

Ein Bericht der Beratungsfirma CE Delft von 2016 schätzt, dass bis 2050 rund 264 Millionen „Energiebürger“ 45 Prozent des Strombedarfs der EU decken könnten. Die Studie zeigt auch das Potenzial verschiedener Formen von Bürgerenergie. Im Jahr 2050 könnten Gemeinschaftsunternehmen und Genossenschaften 37 Prozent des erzeugten Stroms einspeisen. Dies sind die Projekte, die oft große positive Auswirkungen auf die lokale Wirtschaft haben.

Ein solches Maß an Beteiligung hängt von der richtigen Politik ab. Doch in vielen Ländern entwickelt sich das Energiesystem falsch. Eine der größten Hürden sind die Überkapazitäten. Die Stromerzeugung übersteigt die Nachfrage. Die fossile und nukleare Energie wird subventioniert, um „Energiesicherheit“ aufrechtzuerhalten – und das erstickt den Markt für örtliche Projekte bei den Erneuerbaren.

Die derzeitigen Vorschriften machen es unwahrscheinlich, dass im nächsten Jahrzehnt Millionen von Menschen an der Energiewende teilnehmen werden. Vieles hängt von der endgültigen Ausgestaltung des Clean Energy Package ab. Förderlich wäre ein Recht für Einzelpersonen und Zusammenschlüsse, eigene Energie zu produzieren, zu verbrauchen, zu lagern und zu verkaufen. Dazu müssten die überhöhten Gebühren für den Netzzugang und andere administrativen Hindernisse beseitigt werden. So würden gleiche Wettbewerbsbedingungen entstehen, die der Bürgerenergie einen angemessenen Zugang zum Markt verschaffen würden.

Digitalisierung: Land für Pioniere

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Am 20. Mai 2015 stand das deutsche Stromnetz vor einem Problem, das zehn Jahre zuvor nicht einmal denkbar gewesen wäre. Eine partielle Sonnenfinsternis verringerte ab 10 Uhr morgens die Helligkeit um bis zu 70 Prozent. Als die Sonne hinter dem Mond verschwand, produzierten Solarzellen mit einer Kapazität von sechs Atomkraftwerken keinen Strom mehr. Die Netzbetreiber hatten für diesen Tag Monate im Voraus geplant. Denn aus Stromnetzen muss immer die gleiche Menge Elektrizität abgegeben werden wie in sie eingespeist wird. Wenn nur ein geringes Ungleichgewicht zwischen den beiden besteht, kann es zu einem Stromausfall oder Stromstoß kommen. Der plötzliche Verlust einer so großen Erzeugungskapazität ist ein Worst-Case-Szenario.

Es gab im Vorfeld viele Diskussionen darüber, ob schnell reagierende Gaskraftwerke einen solchen plötzlichen Stromausfall kompensieren könnten. Und sie konnten. Aber als die Sonne am Mittag wieder vollständig zu sehen war, stand sie am höchsten Punkt. Mehr als 1,5 Millionen Solaranlagen kamen mit der Kraft von jetzt zwölf Atomkraftwerken ins Netz zurück. Die Netzbetreiber versuchten, für den plötzlichen Anstieg des Solarstroms Platz zu schaffen. Die großen fossil befeuerten Kraftwerke, die gerade die Lücke in der Erzeugung gefüllt hatten, mussten wieder stillgelegt werden. Gegen Mittag war alles vorbei, und die Erneuerbaren deckten wieder 40 Prozent des deutschen Strombedarfs. Innerhalb von nur zwei Stunden hatte das deutsche Stromnetz einen Großteil seiner Stromerzeugung von einer Quelle auf die andere und wieder zurück verlagert.

Ein großer Teil des Energiesystems ist noch nicht digitalisiert

Dies zeigt, wie stark sich das Energiesystem in den vergangenen zehn Jahren verändert hat. Die Zeit der großen, monopolistischen Versorgungsunternehmen ist vorbei. Die Stromerzeugung hat sich von einigen Hundert großen, zentralen Kraftwerken hin zu Millionen von kleinen, dezentralen Solaranlagen und Windturbinen verlagert. Bei angestrebten 100 Prozent erneuerbarer Energie muss klar sein, dass zukünftig länger anhaltendes wolkiges Wetter die gleiche Wirkung haben kann wie eine Sonnenfinsternis – nur ist dies fast unvorhersehbar. Um sicherzustellen, dass das Netz stabil bleibt, müssen Kommunikation und Interaktion zwischen Erzeugung, Nachfrage, Speicherung und Netz enorm gesteigert werden. Der Schlüssel dazu ist die Digitalisierung.

Der größte Teil der Infrastruktur des Energiesystems ist heute noch nicht digitalisiert. Wenn überhaupt, dann sagen Computer die Energieerzeugung und das Wetter voraus. Es existieren digitale Handels- und Abrechnungssysteme, aber meist nur bei den großen Energiekonzernen. Die Datenverarbeitung in der Energiewirtschaft ist heute noch beinahe auf dem Stand vor der Erfindung des Personal Computers. Informationstechnologie wurde im großen Stil vor allem im Bankwesen, in der Raumfahrt oder der Forschung an Universitäten eingesetzt. Erst PC und Internet erlaubten die uneingeschränkte Interaktion zwischen Personen in Netzwerken und lösten einen Schub an Innovationen aus.

So ist die Lage heute: Pioniere unternehmen erste Schritte, um Technologien im Energiesystem zu demokratisieren. Ihre Ziele sind etwa die Bündelung kleinteiliger Speichereinheiten zu großen „virtuellen Kraftwerken“ oder Elektrofahrzeuge, die an Straßenlaternen aufgeladen werden können. Oder lokale Mininetze: Kleinere Stromerzeuger können ihre eigene Energie verbrauchen oder direkt an Nachbarhäuser verkaufen.

Großkonzerne wehren sich gegen neue Technologien

Warum steckt die Digitalisierung im Energiesektor noch in den Kinderschuhen? Die Einführung neuer Technologien und Ideen in einem streng regulierten Sektor ist eine Herausforderung. Allein in Deutschland bestimmen mehr als 10.000 Gesetzesparagrafen das Energiesystem. Konzerne suchen nach juristischen Gründen, um neue Technologien vom Markt fernzuhalten. Junge Unternehmen finden sich oft in rechtlichen Auseinandersetzungen über die trivialsten Fragen wieder.

Digitale oder „intelligente“, „smarte“ Zähler könnten die Nachfragezeiten und ihre schwankenden Strompreise registrieren. Doch sie sind in vielen europäischen Ländern immer noch nicht verfügbar. Für die Zeiten hoher Nachfrage entwickeln sich Strommärkte langsam und sind oft auf Großverbraucher wie Papierfabriken oder Kläranlagen beschränkt. Wer eine kleine, flexible Batterie-Einheit betreiben will, um billige Überschüsse einzulagern und sie später teurer zu verkaufen, muss sie mit anderen Anlagen zu virtuellen Kraftwerken bündeln, um Einnahmen zu generieren.

In ihrem zur Beschlussfassung vorliegenden Clean Energy Package möchte die EU allen aktiven Verbraucherinnen und Verbrauchern den Zugang zum Energiesystem ermöglichen. Der Gesetzesentwurf will Haushalten erlauben, Strom zu erzeugen, zu speichern und zu verkaufen. Das wäre vergleichbar mit der Öffnung des Internets für kommerzielle Internetprovider zu Anfang der Neunzigerjahre.

Die Zukunft des Energiesystems hängt weitgehend davon ab, ob neue Technologien entweder als Instrumente zu Demokratisierung und Teilhabe oder nur zur Effizienzsteigerung der etablierten Energieriesen eingesetzt werden. Einige begrüßen die Digitalisierung als Gestalter eines dekarbonisierten Systems – erneuerbare Energien, Batteriespeicher, Elektroautos und das Stromnetz würden leise und digital für den Strom sorgen, während die Menschen ihrem Alltag nachgehen. Andere sehen in der Digitalisierung die Überwachungsgefahr. Dritte wieder halten sie für einen Hype. Wegen der lebenswichtigen Rolle der Elektrizität, sagen sie, sollte die Kontrolle über das System am besten an große, erfahrene Energieunternehmen übertragen werden.

Es bleibt abzuwarten, welche Ansicht sich durchsetzen wird.

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